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Der erste Satz: «In einer heißen Nacht verlässt Blandine Watkins in Apartment C4 ihren Körper.» «Messer, Baumwolle, Huf, Bleiche, Schmerz, Fell, Seligkeit – als sie ihren Körper verlässt, ist sie alles gleichzeitig. Sie ist jede Bewohnerin, jeder Bewohner ihres Mietshauses. Sie ist Kehricht und Cherub, ein Gummischuh am Meeresgrund, der orange Overall ihres Vaters, eine Bürste, die durchs Haar ihrer Mutter gleitet.» Vacca Vale ist «eine dieser ausgemusterten Einwegstädte», in der die stillgelegte Autoindustrie die Verwahrlosung der Infrastruktur nach sich zieht, im sogenannten amerikanischen Rostgürtel spielt. Kaninchenstall nennt man eine Hochhaussiedlung mit engen Wohnungen mit papierdünnen Wänden, in denen man das Schnarchen des Nachbarn hören kann. Bereits die ersten eineinhalb Seiten beeindrucken (ich habe sie gleich mehrfach gelesen). Tiffany Jean Watkins, genannt Blandine verlässt ihre Seele … Die Achtzehnjährige wohnt einer WG mit drei Jungs zusammen, die Tiere quälen – die Herren sind allesamt verknallt in ihre Mitbewohnerin. Dieser Roman ist ungewohnt – es gibt keine durchgehende Geschichte. Jedes Kapitel springt in ein anderes Apartment, die Perspektive wechselt hin und her und für meine Begriffe ein wenig überfrachtet – überfüllt, überwältigt der Roman den Lesenden. «Die Wände des Kaninchenstalls sind so dünn, dass man dem Leben der anderen folgen kann wie einem Fortsetzungsroman im Radio.» Hope, eine junge Mutter, die Angst davor hat, eine gute zu Mutter zu sein, ihrem Baby nicht genug Liebe zu geben, de Angst davor hat, mit dem Kind etwas falsch zu machen. Eine Frau mit Angststörungen, die sich vor den Augen ihres Jungen fürchtet, denn er «registriert jeden Sinneseindruck mit einem Ausdruck der Empörung, blickt in die Welt, als könnte er sie verklagen». Und da ist Joan Kowalski, die als Content-Managerin eine Website mit Nachrufen betreut. Sie hat das Problem, dass auf den Nachruf eineseinst berühmten Kinderstars jemand einen unangemessenen Post absetzt, der allerdings behauptet, der Sohn dieser schrecklichen Frau zu sein … Eigentlich muss sie das löschen … Ein älteres Ehepaar hat die Kontrolle über das eigene Leben längst verloren. Ein Mann, der bei Hitze einen schwarzen Rollkragenpullover trägt - was hat er vor? Der Prister wird es erfahren – der sich allerdings schon lange von aller Religion abgekehrt hat. Eine alte Frau, die einen Einkaufswagen voller Plüschtiere vor sich hinschiebt, dabei tief in die Flasche schaut. Auf einer Party für Wohlhabenden, die dieses Stadtteil neu gestalten wollen, natürlich ohne die Bewohner - «sie stehen auf einer Cocktailparty in einem Loft an einem warmen, schadstoffbelasteten Abend» – regnet aus den Lüftungsschächten stinkender Abfall und zerhackte Tierkadaver herunter. Wo einst das Benzol der Fabrik in den Fluss geleitet wurde, soll demnächst ein Start-ups entstehen, für das der Park abgeholzt werden muss. Das einzige Grün dieser Gegend. «Im Kaninchenstall lebten mehr Nager in den Wänden als in allen Gullys von Vacca Vale zusammen. Man gewöhnt sich an sie, hat fast Mitleid mit ihnen.» Wir befinden uns im Apartmenthaus «La Lapinière Affordable Housing Complex» und mir kam es vor, als zappe man vor dem TV von einem Programm zum nächsten, immer hin und her. «Manchmal geht es zu wie im Irrenhaus, oder?» Verschiedene Erzählstile, Zeitungsartikel, Textnachrichten, Online-Kommentare - Vereinsamung, Machtmissbrauch, #metoo, sexistischen Belästigung, Drogenmissbrauch, Hasssprache und Fakenews im Internet, Verwahrlosung, bis hin zum Klimawandel und Gentrifizierung – und gekonnt geschriebene Vignetten. Man hört die Nachbarn täglich durch die Wände, aber man kennt sich kaum. Ein düsteres Gesellschaftsporträt mit schwarzem Humor erzählt, ein verwobenes Netz von vielschichtigen Charakteren aus diversen Blickwinkeln, aus verschiedenen Stilen zusammengebaut. Protagonisten, die sich gegenseitig betrachten und damit das Gesagte umkehren. Für diesen Roman erhielt Tess Gunty im vergangenen Jahr mit dem National Book Award einen der wichtigsten Literatur-Preise der USA. Kam der Roman bei mir an? Ja, in vielen Passagen, in Sätzen, in die ich mich verliebte. Sätze wie diese hier zum Haustier eines Bewohners: «Daisy belastete ihre Mitmenschen nicht mit einem Übermaß an existenziellen Ängsten. Daisy fuhr gern auf dem Saugroboter Karussell.» Oder: «Ich verachte nicht alle», sagt sie. «Und ich schaue nur auf die herunter, die ganz oben sind.» Eine schriftstellerische Leistung ohne jeden Zweifel: frech, melancholisch, gesellschaftskritisch, genau beobachtend, textvielfältig. Sicher kein Roman, der bei jedem ankommt. Insgesamt war mir das alles zu vollgestopft – aber lesenswert. Schreiben kann Tess Gunty – ganz ohne Frage! «Der Landschaftspark wurde während der Grippe von 1918 angelegt… Von üppiger Vegetation gesäumt mäandert das Gelände zwischen gepflegten öffentlichen Wiesen und ungestörtem Gesträuch. … vorbei an den Grillplätzen, dem Flieder-Gedenkhain, den von Unkraut überwucherten Fußball- und Baseballfeldern, über eine friedliche Lichtung um einen ovalen Brunnen, an einem unheimlichen Karussell vorbei, … der Schöpfer des Parks war der Meinung, die schönsten Wörter der Natur sollten allen Menschen in allen Regionen gehören. … Auf der großen Wiese wird die Fußgängerin Picknickdecken und Babys sehen, Frisbees und Streit, Wein und Gelächter. Zunehmend: Drohnen. Zunehmend: ihre mörderische Wut darauf.»