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gwyn

Posted on 19.11.2023

Filimon Mebrhatom wagte mit 14 Jahren die Flucht aus Eritrea, da er nicht zum Militär eingezogen werden will, in den Krieg ziehen, und weil es in dem Land weder Meinungsfreiheit noch Bildungschancen gibt - dafür ständige Überwachung durch den Staat. Seine Reise nach Libyen wird zur Odyssee; immer wieder wird er gefangen genommen, verkauft wie ein Sklave, immer wieder müssen seine Verwandten für ihn zahlen, damit er nicht umgebracht wird. Dem Tod mehrmals knapp entronnen, berichtet er von unwürdigen Transportbedingungen und Zuständen in Gefängnissen und Flüchtlingslagern, von Menschenhandel, Polizeigewalt, Sklaverei, Folter – und vielen Toten. Von Eritrea nach Äthiopien, im Sudan durch die Sahara, in Libyen beim IS gefangen, in einem überfüllten abgewrackten Kahn über das Mittelmeer nach Italien ins Flüchtlingscamp; ausgebüchst mit dem Ziel Dänemark, ist er schließlich in München gelandet. Die Autobiografie beginnt mit einem Überfall der Miliz auf sein Dorf in 2010. Filimon ist 11 Jahre alt. Die Soldaten dringen in die Häuser ein, treiben Männer und Frauen getrennt auf dem Dorfplatz zusammen. Die kranke Mutter von Filimon wird dabei zusammengeschlagen, ihr wird die Hand gebrochen. Sie suchen nach wehrtüchtigen Männern. Die große Schwester von Filimon ist bereits geflohen, aber sie kam nicht weit, sie ist in einem Fluss in Äthiopien ertrunken (auch Filimon wird den Fluss später überqueren). Mit 14 Jahren entscheidet der Junge sich, zu gehen – er sagt niemandem etwas von seinen Plänen, verabschiedet sich nicht. Zusammen mit einem Cousin macht er sich auf dem Weg; doch den wird er bald verlieren. «Dieser Ort war anders als der vorherige. Ich traute meinen Augen nicht: Überall lagen Rucksäcke, Knochen und tote Menschen umher. Teilweise waren sie schon fast vollständig vom Sand bedeckt. … weil sie es für möglich hielten, dass hier vielleicht vermisste Familienmitglieder oder Freunde … zu Tode gekommen waren.» Hunger und Durst, glühende Sonne prägen die Flucht. In Äthiopien und im Sudan werden die Flüchtenden immer wieder vom Militär aufgegriffen, um sie an der Flucht zu hindern. Als Erstes wird man von Polizei und Miliz ausgeraubt; doch nicht jedes Geldversteck wird gefunden. Gefangene versuchen zu fliehen; was meist nicht gelingt – aber korrupte Polizisten lassen sie gegen Geld entwischen, übergeben sie Schleppern. Immer wieder Schläge und Folter … Eine Horrorfahrt auf offenen Ladeflächen durch die Sahara im Sudan folgt; viele Menschen sterben. Filimon weiß, dass Schlepper nicht anhalten, wenn jemand unterwegs vom Wagen geschleudert wird, Schwache und Kranke zurücklassen bei Pausen – oder sie auch ermorden. Schlepper erpressen Verwandte per Telefon (in Eritrea oder in Europa), für die Menschen zu zahlen – ansonsten würde man sie töten. Filimons Gruppe wird vom IS entführt; er muss als Sklave arbeiten und er soll zum Islam konvertieren. Er bleibt standhaft Jesus treu. Irgendwann kann er fliehen. Und die gesamte Zeit: Hunger, Durst, glühende Sonne ohne Schutz, Krankheit und Schwäche und jede Menge Prügel; Folter. Wer verlässt sein Heimatland schon freiwillig und vor allem allein, im Alter von vierzehn Jahren, fragt Filimon Mebrhatom im Vorwort. Es ist sein unbändiger Wunsch nach Freiheit, der sich wie ein roter Faden durch seine Geschichte zieht und ihm den Mut und die Hoffnung gibt, seinen Weg bis nach Europa zu gehen. Bereits die Kapitelüberschriften sind markant: «Mein Weg durch die Wüste», «In der libyschen Hölle», «Das Massaker im libyschen Gefängnis» «In der Gewalt der Dschihadisten» – diese Kapitel folgen aufeinander. Am Ende läuft die Geschichte im Galopp, vom Camp an der libyschen Küste erfährt man nichts, auch nichts von der Überfahrt, Italien wird nur fragmental beschrieben. Die Flucht ist eine Höllenfahrt; und Filimon meint am Ende, es sei vielleicht besser, für seine Schwester, dass sie gleich am Anfang der Flucht ertrunken ist, denn wenn eine Frau den Weg bis ins Boot geschafft hat, ist sie mindestens 100 Mal vergewaltigt worden, eher viel viel mehr. Nur wer Kontakte hat, die Schlepper und Entführer immer wieder bezahlen zu können, hat eine Chance, nach Europa zu kommen. Bloß nichts Wertvolles am Leibe tragen, denn man wird an jeder Straßenecke gefilzt, geschlagen, ausgeraubt. Die Telefonnummern muss man im Kopf haben, denn oft wird auch das Handy gestohlen. Wer niemanden hat, der zahlt, wird nicht mitgenommen, oft genug sogar umgebracht. Eine wahre Geschichte, eine grausame Geschichte. Immerhin endet diese hier gut, Filimon wird von einer deutschen Familie aufgenommen. Mir fehlen hier allerdings zwei Dinge: Was ist mit dem Vater passiert? Wir erfahren, er war Bauer, hat hart gearbeitet, die Familie besaß Land und Tiere. Der Neunjährige half dem Vater, so weit er konnte bei der Arbeit. Bei dem anfänglichen Überfall der Miliz auf das Dorf, Filimon ist elf, ist er schon nicht mehr anwesend. Warum wird sein Schicksal ausgeklammert? Filimon hat es nach Europa geschafft, doch wie geht es seiner Familie heute? Die Mutter war krank, ist allein mit kleinen Kindern zurückgeblieben … auch das erfährt der Lesende nicht. Kommen wir zum Sound des Jugendbuchs. Ich habe bereits mehrere Fluchtgeschichten gelesen, die ähnliche Wege aufzeichnen und gleiche Brutalität, ebenso andere Romane aus afrikanischer Feder, die grausame Geschichten berichten. Diese Bücher haben mich berührt, die die ein oder andere Träne rollen ließen. Dieses Buch hat mich trotz aller Schonungslosigkeit nicht berühren können. Es liegt schlicht am Sound! Obwohl die Autobiografie in der Ich-Perspektive geschrieben ist, lässt es eher kalt. Hier fehlt eindeutig die literarische Kraft, sich auszudrücken, die Emotionalität. Woran mag das liegen? Die anderen Romane zum Thema, die ich kenne, waren muttersprachlich verfasst und übersetzt worden. In diesem Fall hat sich Filimon Mebrhatom rückblickend mit seiner Flucht auseinandergesetzt – was sicherlich zu einer schützenden Distanz geführt hat, Gefühle sich selbst nicht zuzulassen. Das Konzept zum Buch wurde von einem Journalisten erarbeitet, der Filimon auch bei der Textbearbeitung geholfen hat. Wie viel Text jetzt von wem ist, will ich gar nicht beurteilen. Begegnungen und Dialoge fehlen völlig. Hier wird eine Geschichte skelettartig heruntergerattert, der das Herz fehlt, die Lunge zum Atmen. Journalistischer Stil in Fachberichtformat, ein emotionsloser Sachbericht. Natürlich rauft man sich die Haare, wenn man solche Erlebnisse liest und es wird einem speiübel – aber es bleibt kein Nachklang wie bei anderen Büchern. Die Autobiografie ist wichtig, keine Frage. Jedes Wort zum Verständnis der Flüchtlinge und dem, was sie auf ihrem Weg nach Europa durchmachen müssen, muss niedergeschrieben werden, um das ganze System zu offenbaren. Der Beltz und Gelberg Verlag gibt für das Jugendbuch eine Altersempfehlung ab 14 Jahren. Passt. Filimon Mebrhatom ist im Alter von 14 Jahren aus Eritrea geflüchtet und wohnt jetzt in München. Er hat eine Ausbildung zum Cutter und Kameramann abgeschlossen.

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