letterrausch
Vaclav Smil, kanadischer Wissenschaftler und Autor von fast vierzig Büchern zu den Themen Umwelt, Klima, Globalisierung, Wirtschaft, Politik und Geschichte, setzt sich in seiner neuesten Publikation „Wie die Welt wirklich funktioniert“ weniger mit dem Klimawandel an sich auseinander als mit unserem gesellschaftlichem Umgang mit dieser Herausforderung. Dabei stellt er auf den Prüfstand, was seit einigen Jahren in den Medien, von der Politik, von Thinktanks propagiert wird: Dass wir nur noch wenige Jahre hätten. Dass wir bis 20XX klimaneutral zu sein hätten. Dass wir bis zu einem bestimmten Stichtag nur noch E-Autos fahren sollten. Passiert das nicht, sterben entweder wir oder wahlweise gleich der ganze Planet. Inwiefern solche Szenarien und vor allem die anvisierten Veränderungen (z.B. Kohleausstieg) realistisch und überhaupt umsetzbar sind, untersucht Smil in seinem Buch. „Wie die Welt wirklich funktioniert“ mag als Titel eines Sachbuchs zu den Themen Klima(wandel), Globalisierung und Zukunft der Menschheit provokant und herausfordernd klingen. Doch bei der Lektüre der Thesen des kanadischen Wissenschaftlers Vaclav Smil wird schnell klar, dass er sich eher als Realist und Pragmatiker verstanden wissen will denn als Provokateur. Seine Devise ist: „De omnibus dubitandum (bezweifle alles) muss mehr sein als nur ein Descartes-Zitat mit langer Haltbarkeitsdauer; es muss die Grundlage schlechthin wissenschaftlichen Arbeitens sein und bleiben.“ (S. 266) Sein Anliegen im vorliegenden Buch ist es zu zeigen, dass ein schneller (oder auch nur mittelfristiger) Umstieg auf erneuerbare Energien realitätsfernes Wunschdenken ist, weil unser Wohlstand, unsere Zivilisation und selbst unsere Nahrung von fossilen Energien abhängen. Dabei konzentriert er sich auf vier essenzielle Stoffe, die unsere Welt zusammenhalten: Ammoniak, Kunststoffe, Stahl und Beton. Ammoniak ist der Grundstoff für Stickstoffdünger, der es erst möglich macht, acht Milliarden Menschen zu ernähren. Kunststoffe, Stahl und Beton umgeben unser tägliches Leben – von Bauwerken über Maschinen bis zu Alltagsgegenständen. Alle vier Stoffe benötigen zur Herstellung fossile Energieträger. Das heißt im Umkehrschluss: Fielen diese Energieträger weg, fielen auch die vier essenziellen Stoffe (zumindest zum Teil) weg. Das hieße, die Weltbevölkerung könnte nicht mehr ernährt werden. Das hieße, es gebe keine Stahlbetonbrücken und keine asphaltierten Straßen mehr. Wirtschaft, Logistik und Globalisierung würden zusammenbrechen. Ein zeitnaher kompletter Umstieg auf erneuerbare Energien würde also das Ende unseres Wohlstands und der uns bekannten Zivilisation bedeuten. Dass es überhaupt so viele Menschen gibt, die das Narrativ des schnellen Umstiegs trotzdem mittragen, liegt Smil zufolge daran, dass eben die meisten heutzutage nicht mehr wissen „wie die Welt wirklich funktioniert“. Gab es im 17. Jahrhundert noch Universalgelehrte und auch Lexika, die das gesamte Wissen der Menschheit abbilden konnten, ist Wissen heute so spezialisiert, dass kein einzelnes Individuum es noch in Gänze überblicken kann. Immer mehr Menschen nutzen Geräte, deren Funktionsweise sie nicht verstehen. Und wo früher über 80% der Amerikaner mit der Nahrungsmittelerzeugung beschäftigt waren, sind es heute nur noch etwa 1%. Damit fehlt einer überwältigenden Mehrheit der Menschen ein Bezug zu so etwas Grundsätzlichem wie ihrer Nahrung. Kühe sind eben nicht lila. Und Strom kommt eben nicht einfach so aus der Steckdose. Grundlagen verstehen, Zusammenhänge begreifen, Abhängigkeiten erkennen – das sind für Smil die Grundvoraussetzungen dafür, die Welt in der wir leben, aktiv mitzugestalten anstatt sich in ein unerreichbares Wolkenkuckucksheim zu versteigen. Wer auf Antworten oder große Lösungen hofft, wird hier vergeblich suchen. Zwar macht Smil einige Vorschläge, welche persönlichen und gesellschaftlichen Veränderungen er auch im Hinblick auf Klima- und Umweltschutz für sinnvoll hält. Doch diese Ideen sind weder spektakulär noch sonderlich sexy: Weniger Fleisch essen, weniger Essen wegwerfen (um Ressourcen zu schonen). Da er wenig von Digitalisierung und AI zu halten scheint, ist er auch kein Anhänger der These, dass wir „wie von selbst“ technische Fortschritte machen werden, die uns und den Planeten retten. Ideen wie vertical gardening in Großstädten hält er für Spielereien, die niemals ganze Bevölkerungen ernähren werden. Seine Stoßrichtung ist also: Tech, Digitalisierung, Handy, Laptop und AI sind keine Allheilmittel. Stattdessen ist die Menschheit nach wie vor von denselben Stoffen abhängig wie schon in den letzten 200 Jahren: eben Ammoniak, Beton, Stahl, Kunststoff. Diese Abhängigkeiten lassen sich nicht durch Handy-Apps entkoppeln und nicht durch Windräder auflösen. Klimahysteriker wird dieses Buch nicht befriedigen, denn Smil neigt weder zu Hysterie noch zu Zukunfstpessimismus. Pragmatiker werden schon eher etwas mit „Wie die Welt wirklich funktioniert“ anfangen können. Realisten, die Zusammenhänge verstehen wollen, um eigene Einschätzungen treffen zu können, werden hier bedient und mit viel „Futter“ versorgt. Leser, die sich für globale, politische, wirtschaftliche und wissenschaftliche Zusammenhänge interessieren, werden ebenfalls fündig. Eine klare Empfehlung!