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gwyn

Posted on 31.10.2023

Der Anfang: «Das ist keine gute Geschichte. Verschwundene Mädchen brauchen eine andere Kulisse. Frei stehende Einfamilienhäuser mit Carports, eine tapfere Mutter, die neben ihrem Ehemann steht und den Lieblingsteddy ihrer Kleinen festhält. … Was sich nicht als Kulisse eignet: Ruhrgebietstristesse, Nachkriegsbauten, die nicht die Kraft haben, Hochhäuser zu sein, und dürre oder fette (nimm das nicht persönlich, aber es gibt nie etwas dazwischen) Alleinerziehende, die mit künstlichen Fingernägeln an ihrem Nasenpiercing rumfummeln und in Verteidigungshaltung gehen, sobald sie den Mund aufmachen.» Doch - eine gute Geschichte – wenn auch eine traurige. Arielle Freytag, Anfang dreißig, hat es eigentlich geschafft: Aufgewachsen im prekären Essener Stadtteil Katernberg, hat sie als Social-Media-Managerin in Düsseldorf mittlerweile ein sehr gutes Einkommen. Ihre Kindheit hat sie gezeichnet; sie leidet an Depressionen. Gerade hat sie wegen eines Suizidversuchs eine Psychotherapie hinter sich, ist aus der Klinik zurück, als sie von einer Freundin ihrer Großmutter angerufen wird. Der Oma gehe es schlecht, sie möge kommen, denn sie ist die einzige Verwandte. Gerade noch hatte die Therapeutin ihr geraten, der Oma einen Brief zu schreiben, mit ihr abzurechnen, die Frau aus ihrem Leben zu streichen. Die Oma hatte sie großgezogen, da die alleinerziehende Mutter von Arielle eines Tages verschwunden war. Nie wieder hat man etwas von ihr gehört. «‹Hallo, ist da Arielle Freytag? Hier ist Meryem Güçlü, eine Freundin Ihrer Großmutter›, sagte eine weiche Stimme. Die Art Stimme, die man von professionellen Sprechern und Schauspielern kennt und erst zu schätzen weiß, wenn man probeweise mal selbst im Tonstudio für ’nen Pitch was eingesprochen hat. ‹Meine Großmutter hat keine Freunde›, sagte ich.» Arielle fährt zurück an den Ort ihrer Kindheit. Angekommen erfährt sie, im Kiez werden seit ein paar Tagen zwei Mädchen vermisst – was Arielle mit Wucht an ihre Mutter erinnert, vor vierundzwanzig Jahren spurlos verschwand. Arielle begegnet Weggefährten aus der Jugendzeit. Verbindet sie mit diesen Leuten noch irgendwas? Und was war damals mit ihrer Mutter wirklich geschehen? Einfach abgehauen? Sie und ihre Mutter, das war eine innige Beziehung. Niemals wäre sie ohne die Tochter abgehauen! Oder doch? Und wer ist ihr Vater, von dem sie ihr dunkles, lockiges Haar und die dunkle Hautfarbe geerbt hat? «So war es immer mit uns, schon in meiner Jugend, es gab nur schwere Geschütze. Bei anderen Teenies und ihren Erziehungsberechtigten ging es darum, wann sie zu Hause sein mussten und wie viel Taschengeld sie bekamen. Bei Varuna und mir ging es um Liebe und Verrat, um Leben und Tod. Ich war zu müde, um zu kämpfen.» Mit schwarzem Humor erzählt die 30-jährige Protagonistin Arielle von ihrer Jugend im postmigrantischen Armutsviertel Essen-Katernberg. Der verhassten Oma geht es gut. Was also will sie hier bei der herzlosen, egozentrischen Frau? Sie sucht nach Antworten, begibt sich auf Spurensuche. Wer ist sie und wer sind ihre Eltern? Was war geschehen, das Nichtbegreifen und Nichtgeliebtwerden lastet auf ihrer Seele. Der Kiez scheint in der Zeit stehengeblieben zu sein, die alten Schulkameradinnen, arbeiten als Kassiererinnen und Putzfrauen und ernähren sich nach altbekanntem Muster, schauen RTL und ProSieben. Hier gibt es kein Sushi, keine Bowles, keine hippen Locations. Arielle ist Veganerin, umgibt sich mit Lifestyle, sie ist eine Trendsucherin, schon rein beruflich. Weder Oma Varuna, noch Arielle kommen als Protagonistinnen sympathisch herüber. Varuna, ein Künstlername für die Töpferin, die sich nicht exzentrisch mit wallenden Kleidern und Turban kleidet. Arielle, sexversessen, emotionslos, empathielos gegenüber anderen, hipp, unnahbar und selbstzerstörerisch, von depressiven Schüben geplagt. Die Angst, verlassen oder abgelehnt zu werden, treibt sie an, sich auf niemanden einzulassen, niemanden heranzulassen – letztendlich ein Abbild der Oma. Die Figuren sind stark überzeichnet, eindimensional – aber das ist Absicht, um die Kluft zwischen der Düsseldorfer hippen Szene zum sozialen Brennpunkt klar zu verdeutlichen. Immer wieder schaut Arielle auf ihr Handy, um zu sehen, was in der Firma passiert, welche Hyps gesetzt werden in Social Media, und sie folgt verschiedenen Stars auf Instagram, analysiert im Marketingdenken; voller Anglizismen, Trends und angesagten Locations. Ich habe mich gefragt, wozu es den Strang mit den verschwundenen Kindern braucht, der am Rande nebenherläuft, keine tragende Rolle spielt, nebenbei unspektakulär aufgeklärt wird. Arielle interessiert sich in ihrer Empathielosigkeit kein bisschen dafür. Das bläht den Roman auf und lenkt ab. Eine gute Geschichte, die aufzeigt, wie tief Ereignisse der Kindheit einschneiden, wie sich das Abgelehntsein in die Seele frisst. Aber eine traurige Geschichte, die mit schwarzem Humor erfrischend unterfüttert ist. Lisa Roy wurde 1990 in Leipzig geboren und wuchs im Ruhrgebiet auf. Sie studierte in Dortmund und Köln und veröffentlichte in verschiedenen Literaturzeitschriften und Anthologien. Für die Arbeit an ihrem ersten Roman "Keine gute Geschichte" erhielt sie 2021 das Rolf-Dieter-Brinkmann-Stipendium der Stadt Köln und den GWK-Förderpreis Literatur. Lisa Roy lebt mit ihrer Familie in Köln.

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