Profilbild von gwyn

gwyn

Posted on 31.10.2023

Jedes alte Haus hat seine eigene Geschichte, denn hier lebten und leben Familien, durchlebten die Zeitgeschichte. Und wenn man eine erdachte, typische Familiengeschichte kombiniert mit Zeitgeschichte, Transportmittel, typischen Lebensmitteln, Mode, Möbel, Erringen von neuer Technik, Spielzeug, Plakaten, Zeitungsausschnitten, Ausweisen, Eintrittskarten, Geldscheinen usw., dann erhält man ein kunterbuntes Geschichtsbuch, durch das eine spannende fiktionale Familiengeschichte führt. Geschichte erfahren, plastisch erleben am historischen Material – das macht Spaß! 1871 zieht die Apothekerfamilie Schwartz voller Stolz in ihre neue Wohnung in die Beletage, im eigenen neuen Haus: unter der Wohnung die Apotheke, über ihnen Mieter. Deutscher Geschichte und Berliner Alltagsgeschichten. Fünf Generationen: Kaiserzeit, NS-Regime, zwei Weltkriege, Mauerbau und Mauerfall. Aus der Sicht Kinder der Familie, Karl und Martha, Ursula und Peter und Laura und Ben wird geschildert, was die große und damit auch ihre kleine Welt bewegt. Ganzseitige Bildtableaus versetzen uns mitten hinein in Küche und Keller, Dachwohnung und Kinderzimmer und zeigen, wie sich nicht nur die Bewohner, sondern auch das Innenleben des Hauses im Laufe der Jahrzehnte verändet – einschließlich Modestil, Technik, Spielzeug der Kinder usw. Das wird ergänzt durch detailreiche Wimmelbilder und aufschlussreiche Sachtexte, macht so die Vergangenheit greifbar – und Berlin lebendig! «Mauerbau 1961: Wenige Tage nach Grenzschließung wurden die Grenzpfosten verpflichtet, Flüchtende mit Waffengewalt an der Grenzüberschreitung in die Bundesrepublik zu hindern. Zahlreiche Menschen bezahlten mit dem Leben. Die deutsche Teilung durch die Mauer sollte 28 Jahre lang dauern: bis zum Jahr 1989.» In der neuen Wohnung gibt es Badezimmers, eine Toilette mit Wasseranschluss, eine neue Errungenschaft! Gut, die Mieter müssen sich eine Toilette im Hausflur teilen – immerhin, mit Wasseranschluss! Auf den ersten Doppelseiten finden wir den Stammbaum der Familie, eine Außenansicht der unteren Etage des Hauses beim Umzug, eine Draufsicht auf die Wohnung mit Zimmeraufteilung: Es gibt sogar ein Zimmer für das Hausmädchen, ein Ankleidezimmer, ein Speisezimmer, ein Herrenzimmer, einen Salon und ein Gästezimmer. Auf der nächsten Seite folgt Sachinformation zu den Jahren 1871 – 1888, das Deutsche Kaiserreich. Zum Sachtext gesellen sich Familienszenen, die Kurzvorstellung am Bild von Otto von Bismark, Friedrich III, Wilhelm II, die Pferdestraßenbahn und die Einweihung der elektrischen Straßenbahn; Fahnen, Petroleumlampe, Münzen. Matha erzählt (der Erzählende ist am unteren Rand der Geschichte abgebildet), das Weihnachtsfest 1914 «ist gar nicht schön», denn es herrscht Krieg, Onkel Heinz kämpft in Flandern … Die nächste Doppelseite bringt Sachtext über den 1. Weltkrieg. Die Wimmelbilder sind mit Sprechblasen bestückt, in denen die Protagonist:innen über ihre Erlebnisse berichten. «Mit Rahel Mayer war ich früher eng befreundet. Bis wir dann nicht mehr auf dieselbe Schule gehen konnten. Noch vor dem Krieg verreiste sie mit ihren Geschwistern und kam nicht wieder. Und irgendwann war die Wohnung der Mayers leer. Mama hat mir erzählt, Frau Mayer habe bei ihr Gift gekauft. Das ist inzwischen gefragter als Medikamente.» In diesem Stil geht es weiter: Familienszene – Sachtexte mit Wimmelbildern. Oktoberrevolution, Weimarer Republik, 1933 die Gleichschaltung, Olympische Spiele, 2. Weltkrieg, der Dachstuhl vom Haus wird getroffen, Nachkriegsjahre, die deutsche Teilung, Wirtschaftswunder – das Haus steht in der Westzone – Mauerbau, Jugend- und Frauenbewegung, Popkultur, Wiedervereinigung, und die Apotheke wird umgewandelt … Ein Blick auf ein wichtiges Stück deutsche Kulturgeschichte – Studentenbewegung Ende der 60er, die Berlinale; Wirtschaftswunder, Mauerbau Mauerfall, Ereignisse bis zur Gegenwart. Am Ende des Buchs werden in einem Glossar Begriffe erklärt, wie Backpfeife, Berlinade, East Side Galery, Hamsterfahrt, Kalter Krieg, Kommunismus, Kriegsdienstverweigerer, Ostblock, reaktionär, SO36, Vietnamkrieg, Weltwirtschaftskrise usw. Das Kinderbuch entstand in Zusammenarbeit mit dem Stadtmuseum Berlin, aus deren Fundus einige Vorlagen für die Wimmelbilder einfließen konnten, wie historische Zeitungen, Poster, Postkarten, Ausweise, Eintrittskarten, Geldnoten, Lebensmittelkarte usw. Hier haben die Autor:innen ebenfalls Einblick auf Möbel, Haushaltsgegenstände, Spielzeug, Bekleidung usw. im Original bekommen, was dem Kindersachbuch so viel Authentizität verleiht. Faktenwissen deutscher Geschichte in Kurzformat mittels Storytelling, spannend an einer Familie erzählt, auf unterhaltsame und emotionale Weise vermittelt. Das Haus ist fiktiv, doch der Grundriss der Wohnung ist typisch für Berlin. Das macht das Buch sehr lebendig. Aber auch die Illustration von Isabel Kreitz ist hervorragend. Im Retro-Comicstil, detailreich; bei den Wimmelbildern sind sogar Fotos von Originalen eingefügt. Der Gerstenbergverlag gibt eine Altersempfehlung ab 10 Jahren. Ab der weiterführenden Schule – Allage! Ein hochwertiges Kinderbuch, das sich auch als Unterrichtsmaterial eignet. Empfehlung! Kathrin Wolf, geb. 1982, studierte Kunstgeschichte an der Philipps-Universität in Marburg, der Universität Hamburg und Museumsmanagement und -kommunikation an der Hochschule für Technik und Wirtschaft in Berlin. Schwerpunkt ihrer Tätigkeit für Museen und Kulturinstitutionen, darunter das Stadtmuseum Berlin, war das Geschichtenerzählen (Storytelling). Isabel Kreitz, geb. 1967, studierte Illustration an der Fachhochschule für Gestaltung in Hamburg und an der New Yorker Parsons School of Design, wo sie ihre Liebe zu Cartoons und Comics entdeckte. Die bekannte Künstlerin wurde für ihre Arbeit mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Max-und-Moritz-Preis als beste deutschsprachige Comic-Künstlerin auf dem Comicsalon in Erlangen 2012 und 2019 mit dem Wilhelm-Busch-Preis.

zurück nach oben