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«Ich fing an wahrzunehmen, wie die Literatur, die von mir verehrte und die von mir verabscheute, sich bei ihrer Begegnung mit Rassenideologien verhielt. Die amerikanische Literatur konnte es gar nicht verhindern, dass sie von dieser Begegnung geprägt wurde. Ja, ich wollte die Momente identifizieren, in denen die amerikanische Literatur Komplizin bei der Fabrikation von Rassismus war, aber genauso wichtig schien mir, zu sehen, wann die Literatur explodierte und den Rassismus unterminierte.» Drei Essays der US-amerikanischen Literaturnobelpreisträgerin Toni Morrison, in denen sie sich mit Rassismus in der Literatur beschäftigt: «Schwarze Angelegenheiten», «Vom Schatten schwärmen» und «Beunruhigende Krankenschwestern und die Freundlichkeit der Haie», indem sie Klassiker der amerikanischen Literatur analysiert. Es sind ausgewählte Essays, die aus Vorlesungen in Princeton entstanden. Morrison nimmt bereits früh beim Lesen wahr, dass Schwarze Personen in der Literatur nicht vorkommen oder ihnen wird eine passive Rolle zugeschrieben. Sie nennt es Afrikanismus. Afrikanistische Menschen werden in der Literatur nicht beschrieben wie sie wirklich sind, sondern von weißen Schriftsteller:innen so dargestellt, wie weiße Menschen sich diese vorstellen. Dieses Bild wird zum Lesenden getragen und so wird die Synekdoche hinausgetragen, verfestigt sich. Sie berichtet von sprachlichen Codes. So spricht sie auch von einem «erfundenen Afrika», das so nie existiert hat. Das wurde von mir so bei Karl May und seinen Geschichten so empfunden – für mich die erfundenen Indianer, bzw. Orient. Viele Darstellungen in Romanen sind reine Fantasie des weißen Mannes. «Früher nahm ich als Leserin an, das Schwarze Menschen in der Vorstellung weißer amerikanischer Schriftsteller:innen wenig oder nicht bedeuten. Schwarze Menschen traten überhaupt nicht in Erscheinung, es sei denn als Objekt …» Sie beschreibt, wie eine schwarze Figur als Objekt benutzt wird, um den weißen Protagonisten als Held und guten Menschen darzustellen, als Befreier. Die schwarze Person bekommt kein eindeutiges Ich, sondern fungiert als Platzhalter. Sie beschreibt den Roman von Willa Cather, «Sapphira und die Sklavin», in dem die weiße Farmerin Sapphira, ihren Mann, Mister Colbert, verdächtigt, ein Verhältnis mit der jungen Nancy zu haben, der Tochter ihrer treuesten Sklavin. Sapphira brachte die Sklaven mit in die Ehe, die ihr Mann gern freilassen würde (nicht darf – und er denkt sich, wo sollen sie denn hin? Sie haben doch nichts gelernt, schon gar nicht, für sich zu sogen, sie sind abhängig von ihm) und die gemeinsame Tochter stellt sich völlig gegen die Sklaverei. Der Roman galt als komplex, als skandalös (Mischehen/Kinder), ein Aufruf gegen Rassismus – aber er vertritt nun mal die amerikanisch-weiße Sichtweise. Cather beschreibt Colbert als kleingeistigen Draufgänger, Nancy als biblische Reinheit. Sapphiras Eifersuchtsfantasien blühen immer weiter auf. Sie animiert schließlich ihren Neffen Martin, Nancy zu verführen (vergewaltigen). Sapphiras Tochter Rachel wiederum, ermöglicht Nancy die Flucht in den Norden. Toni Morrison beschreibt blinde Stellen im Plot, Charaktere die keine eigene Stimme haben, die als Platzhalter fungieren, grobe Realitätsbeugungen und Projektionen. Auch nimmt sie sich im letzten Essay Hemingway vor mit seinem Roman «Haben und Nichthaben». Es geht Toni Morrison nicht darum, Romane zu verändern. Sie stehen für ihre Zeit. Es gilt zu verstehen, wie Sprache, Literatur, funktioniert, beeinflusst, das Denken der Gesellschaft festigt. Achtsamkeit bei der Bildung von Geschichten, Authentizität und der Gebrauch von Wörtern – genau hinsehen, was passiert. Ein Band, der zum Nachdenken anregt – und ein, vielschichtiges, kompliziertes Geflecht. Und letztendlich geht es nicht nur um das Verhältnis Schwarz-Weiß! Sehr lesenswert! «Wir alle, Leserinnen und Leser, Schriftstellerinnen und Schriftsteller, werden um etwas gebracht, wenn die Literaturwissenschaft zu höflich bleibt oder zu ängstlich, um eine zerreißende Dunkelheit vor ihren Augen zu bemerken.» Toni Morrison wurde 1931 in Lorain, Ohio, geboren. Sie studierte an der renommierten Cornell University Anglistik und hatte an der Princeton University eine Professur für afroamerikanische Literatur inne. Zu ihren bedeutendsten Werken zählen «Sehr blaue Augen», «Solomons Lied», «Menschenkind», «Jazz», «Paradies» und diverse Essaysammlungen. Sie war Mitglied des National Council on the Arts und der American Academy of Arts and Letters. Ausgezeichnet mit zahlreichen Preisen, u. a. mit dem National Book Critics› Circle Award und dem American-Academy-and-Institute-of-Arts-and-Letters Award für Erzählliteratur. 1993 erhielt sie den Nobelpreis für Literatur, und 2012 zeichnete Barack Obama sie mit der Presidential Medal of Freedom aus. Toni Morrison starb am 5. August 2019.