Profilbild von Buchdoktor

Buchdoktor

Posted on 30.10.2023

Sabrina Imblers Essay-Sammlung stellt jeweils ein Lebewesen aus dem Meer einem charakteristischen Begriff gegenüber, der ihre Entwicklung zur queeren Person repräsentiert. Als Erzählperspektive wählt die Autor:in die Ich/Wir- und die Du-Form, die sich als man/an sich selbst gerichtet interpretieren lässt. Imbler wuchs in Foster City/Kalifornien als Tochter einer chinesisch-stämmigen Mutter auf. Im gentrifizierten Umfeld zwischen privaten Swimmingpools und Tennisplätzen war eine schüchterne, jugendliche Asian American auf der Suche nach ihrer Identität nicht vorgesehen. Sabrina Imbler widersprach US-amerikanischen Normen (weiß, christlich, hetero) gleich dreifach: PoC/Mixed Race, übergewichtig und queer waren hier nicht vorgesehen. Imblers in den USA sozialisierte Mutter war übergewichtig und übte erheblichen emotionalen Druck auf die Tochter aus, abzunehmen. Die Ur-Großmutter hungerte auf der Flucht vor der japanischen Besetzung Shanghais, um die spärlichen Nahrungsmittel ihren Kindern zu lassen. Ein Nährboden für Essstörung und gestörtes Körperbild wie aus dem Bilderbuch. Den äußeren Zwang, sich in amerikanische Kleidergrößen ihrer Mutter zu hungern, verknüpft die Autor:in mit dem Verhungern eines Krakenweibchens, um dem Kraken-Nachwuchs im Gelege die bestmöglichen Überlebenschancen zu sichern. Weitere Begriffspaare sind u. a. Wanderung des chinesischen Störs (auch gegen Staudammwände) versus Krieg, Flucht und Hunger ihrer chinesischen Vorfahren, Sterben eines Pottwals versus Sterben ihrer eigenen Partnerbeziehung, Verletzung von Meerestieren allgemein gegen Imblers Selbstverletzungstendenzen, Kommunikation von Sepien als Vorbild für genderfluide oder genderlose Personen, Cluster im Tierreich versus Schwärme von Menschen und – sexistische Darstellung in Naturdokus (wenn ein weiblicher Krake z. B. als Trickbetrüger/Transvestit) bezeichnet wird. Fazit Die meeresbiologischen Abschnitte (mit einer Fülle von Quellenangaben), meeresbezogenen Fun-Facts und Anekdoten aus der queeren Szene New Yorks waren für mich durchweg interessant und rechtfertigen die Wahl in die 10 besten Nonfiction-Bücher. Imblers schmerzhafte Suche danach, WER sie ist, wirkt als Augenöffner, da das Thema Rassismus aus meiner Sicht in Europa offenbar von Schwarzen Personen belegt wird und Stimmen asiatisch-stämmiger Europäer:innen bisher rar sind. Die Versöhnung der erwachsenen Autor:in mit dem Einfluss ihrer Familienbiografie auf ihr Körperbewusstsein kratzt m. A. leider nur an der Oberfläche. Auch wenn mein Interesse an dem Kind, das diese queere Journalist:in einmal war, nur am Rand befriedigt wurde, hat mich Imblers schwerer Weg stark berührt vom Unbehagen am vorgegebenen Gender bis zur Erkenntnis, dass sie/er queer IST und es nicht nur sein will, weil andere ein Etikett von ihr fordern. °°°°° Vor 10 Jahren hätte ich mir noch nicht vorstellen können, dass sich ein Text ohne männliche und weibliche Pronomina flüssig lesen lässt – das gelingt hier unfallfrei. Rechnen sie mit Gender-Sternen, den Pronomina „they/them“ und „die*der“ und der anonymisierendn Benennung von Personen mit ihrem Anfangsbuchstaben. Mit der Darstellung von sexueller Gewalt und Victim Blaming sollten Sie rechnen.

zurück nach oben