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gwyn

Posted on 10.10.2023

Der erste Satz: «Echo warf noch einen Blick in den Spiegel, um sich davon zu überzeugen, dass ihre Schwimmkappe richtig sass und der wasserdichte Ohrhörer gut hinter ihren Diamantsteckern verborgen war.» Echo – das ist ihr Codename – ist Auftragskillerin. Sie heißt Nena; eigentlich Aninyeh Ama Asym, die in einem Dorf in Ghana geboren wurde, aber das war davor. Der Roman ist in «Danach» und «Davor» in abwechselnden Kapiteln geschrieben. Nena Knight lebt in Miami; sie ist die Tochter einer wohlhabenden Unternehmerfamilie, die in London lebt. Sie wurde von ihren afrikanischstämmigen Eltern adoptiert. Ihr Vater ist der Vorsitzende des African Tribal Council, genannt «The Tribe», ein Syndikat afrikanischer Geschäftsleute, das afrikanische Länder in Geschäftsbeziehungen unterstützt, um die Länder auf Augenhöhe mit den Westlichen zu bringen. Wer das unterwandern will, wird liquidiert; die Bösen ausmerzen, wie sie es formulieren. Nun soll Nena einen Bundesstaatsanwalt der USA ausknipsen, der einen Afrikaner wegen Korruption vor Gericht bringen will. Ihr ist nicht wohl bei der Sache. Der Angeklagte ist aber wichtig für «The Tribe», weil dessen Chef der Organisation beitreten möchte und beste Geschäftskontakte einbringt. In der Nacht vor ihrem Auftrag rettet Nena auf der Straße eine Jugendliche, Georgia, die von zwei Typen überfallen wird, die sie vergewaltigen und umbringen wollen. Nena tötet die Männer und fährt Georgia nach Hause, wo der Vater bereits auf der Straße seine Tochter in Empfang nimmt: der Bundesstaatsanwalt. Doch beim ersten Blickkontakt löst dieser Mann etwas in Nena aus: sie kann ihn nun nicht mehr ausschalten. Als sie am nächsten Tag auf dem Dach liegt, mit sich hadert in einem Loyalitätskonflikt, mit dem Gewehr den Staatsanwalt und die Gruppe ins Visier nimmt, erkennt sie in dem Angeklagten jemanden, der ihr und ihrer Familie viel Leid angetan hat. Und sie schießt. Der Angeklagte ist tot. Das wird Ärger geben … in den Kapiteln «Davor» erfahren wir die Geschichte von Aninyeh, wie ihre Familie und ihr Dorf, ausgelöscht wurden, welchen Leidensweg sie ging und wie es dazu kam, dass sie adoptiert wurde. In «Danach» geht die Story von Nena weiter. «Nena oder Echo, Echo oder Aninyeh. Sie hatte keine Ahnung, wer sie sein würde.» Interessant ist die Perspektive, die Yasmin Ango gewählt hat. Die Kapitel «Davor» sind in der Ichform von Aninyeh im Präsens erzählt, mit einer Erzählhaltung im Zoom – während «Danach» die aktuelle Handlung von Nena in der dritten Person im Präteritum in der Erzähldistanz distanziert und in der Erzählhaltung im Weitwinkel gestaltet ist. Die Distanz und Nähe beim Lesenden setzt sofort ein, man trennt die Personen völlig voneinander ab. Alles das, was die 14-jährige Aninyeh erlebt, ist für den Lesenden kaum zu ertragen: Die Auslöschung ihres Dorfs, die brutale Demütigung ihrer Familie, ihres Vaters, der sich als Clanführer verweigerte, einen Handelsweg zum Sklavenhandel durch sein Dorf zuzulassen, die viehische Liquidation aller Männer der Familie. Es folgt Gruppenvergewaltigung an den Frauen, und Aninyeh wird in die Sklaverei nach Europa verkauft, an einen reichen Psychopathen nach Paris. Wenn dem nicht genug wäre, geht Yasmin Angoe hier ziemlich tief ins Detail ihrer Schilderungen. Wilde Milizen in Afrika, Menschenhandel, alles wichtig, um angesprochen zu werden, ebenso die politische und wirtschaftliche Unterdrückung der Länder durch den Westen, Rassismus, Kolonialismus. Keine Frage. Die Frage stellt sich in Erzähldistanz und Erzählhaltung, die hier genauso angelegt ist, dass der Lesende tief mit Aninyeh leidet bis kurz vors Erbrechen. Ich kann gut mit der Darstellung von Gewalt umgehen, wenn sie reale Szenen darstellt, die auf dieser Welt geschehen. Das ist nicht die Kritik. Doch wie tief will ich in die Szene hineingehen? Vom Anfang, detailliert bis zum Ende, jede Handlung, jeden Schweiß- und Blutstropfen beschreibend? Bei manchen Büchern eröffnet sich an dieser Stelle für mich Effekthascherei mit dem Leid der Protagonisten für Voyeuristen geschrieben, zugunsten der Verkaufszahlen. Andererseits benötigt die Autorin Verständnis vom Lesenden, warum man eine gewissenlose Killerin für sympathisch halten soll. Erster Trick: «Rette die Katze» – in diesem Fall die Tochter vom Staatsanwalt. Wer Kinder vor dem Tode rettet, muss dem grunde nach gut sein. Und dann geht es im Rückblick gleich mit dem Überfall auf das Dorf in Ghana los. Aus Aninyeh wird Nena, wird Echo – sie wurde traumatisiert, manipuliert und zu einer Killerin trainiert; ein fast emotionsloses Wesen, der man die Seele ausgelöscht hatte. Da muss der Lesende Mitleid haben. Leider ist hier die Gewalt bis ins Detail geschildert, das für Kopfkino und Nachdenken beim Leser nichts mehr übrigbleibt. Lesen, schütteln, schlucken. Denken braucht man hier nicht. «The Tribe» sind die Guten, die lediglich die Bösen ausknipsen – so denkt Nena – bis zu dem Staatsanwalt. Denkt so eine gebildete, intelligente Frau? Sie sollte begreifen, dass auch «The Tribe» ein Kartell ist, eine Afrika-Mafia. Letztendlich nicht besser als die Leute, die ihr Dorf dem Erdboden gleichgemacht haben, nur eben gebildet, im Anzug. Natürlich muss Nena den neuen Eltern dankbar sein und etwas zurückgeben für die Rettung. Doch sagt eine völlig traumatisierte Jugendliche mit extremer Gewalterfahrung gleich zu, eine Killerin zu werden, weil sie sich innerlich leer fühlt? Das wage ich zu bezweifeln. Sie hatte die Wahl, nein zu sagen. Klischee über Klischee und jede Menge Zufälle. Extrem hübsche Frauen und Männer auf allen Ebenen – die Welt besteht hier nur aus Models … ganz realistisch. Geschwister, die mit 14 / 16 Jahren getrennt wurden, erkennen sich nach 15 Jahren nicht wieder, obwohl sie mehrfach eng zusammensitzen und reden? Hier gibt es viel zu bezweifeln. Sprachlich hat mich der Roman auch nicht vom Hocker reißen können, genauso simpel wie die Story. Gewalt ist häufig gerecht und löst alle Probleme. Na prima. Das Säuberungsteam hat hier viel zu tun. Fazit: Ein spannender Thriller, der mit übelster Gewalt brilliert, inhaltlich aber nicht viel hergibt. Band zwei und drei werde ich mir ersparen.

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