Profilbild von gwyn

gwyn

Posted on 9.10.2023

«Ich möchte vom Leben alles, ich möchte eine Frau, aber auch ein Mann sein, viele Freunde haben und allein sein, viel arbeiten und gute Bücher schreiben, aber auch reisen und mich vergnügen, egoistisch und nicht egoistisch sein.» Die junge Frau, die diese Worte schrieb, gilt heute als eine der einflussreichsten Denker:innen des 20. Jahrhunderts. Mit ihren Werken, ihrer Philosophie und Lebensweise forderte sie ihre Zeitgenoss:innen heraus und veränderte unsere Vorstellung von Liebe, Partnerschaft und dem Verhältnis der Geschlechter. Simone de Beauvoir war die bedeutendste Philosophin des 20. Jahrhunderts, eine Kämpferin für den Feminismus, eine bedeutende Schriftstellerin und die Lebensgefährtin von Jean-Paul Sartre. Deirdre Bair war eine amerikanische Literaturwissenschaftlerin und Biografin und trifft in dieser Graphic Novel Simone, die ihr für eine Biografie von ihrem Leben berichtet – so 1991 geschehen. Die Kindheit ist kurz umrissen, der Vater, der vom Erbe lebt, sich in Aktien verzockt, was den sozialen Abstieg der Familie bedeutet. Eine Simone, die früh erkennt, dass Heirat einen Käfig signalisiert, und für sich entscheidet, nicht zu heiraten, frei zu bleiben, Bücher zu schreiben. Der erste Weltkrieg wird hier leider ausgeklammert, der dazu geführt hatte, dass die Familie verarmt. Simone studiert Philosophie und lernt Jean-Paul Sartre kennen, der ihr Lebenspartner wird. Beauvoir und er trafen sich trotz ihrer Anstellungen in verschiedenen Orten weiterhin regelmäßig in Paris, ihrem dauerhaften Lebensmittelpunkt in einer offenen und freien Beziehung. Sie gab viele Freundschaften zugunsten der Freunde Sartres auf. Das wird in diesem Comic nicht ganz deutlich, ebenso der Zweite Weltkrieg und dass Sartre und de Beauvoir eine Widerstandsgruppe organisierten. Die Liebesbeziehung mit Nelson Algren nach dem Zweiten Weltkrieg während ihrer USA-Reise wird erwähnt, aber nicht die vielen Reisen, die sie mit Sartre danach unternahm, auch nicht die siebenjährige Beziehung mit dem Filmemacher Claude Lanzmann, der einzige Mann, mit dem Simone je zusammenlebte, neben Sartre zum Ende seines Lebens. Auch von dem langen Aufenthalt des Paares in Rom ist nicht die Rede und von den vielen Aktivitäten innerhalb der kommunistischen Bewegung. Hier klingt es, als wäre Simone nie politisch aktiv gewesen, außer, wenn es um den Feminismus ging – das Gegenteil war der Fall. Vermerkt: Sie lernte in den 60-ern, dass im Sozialismus die Gleichberechtigung der Frau nicht vorgesehen war. Auch unterschrieb de Beauvoir mit 59 anderen Intellektuellen auch einen Appell zur Entkriminalisierung der Pädophilie, was hier nicht erwähnt wird. Simone pflegte ihren Lebensgefährten Sartre während seiner langen Krankheit bis zu seinem Tod, noch ein wichtiger Teil aus der Biografie, der unerwähnt bleibt. Ein volles Leben: reich an Erkenntnis, an Schmerz und Freude; das Leben einer Frau, die in all ihren Lebensaltern von der Neugierde auf sich und die Menschen getrieben war und die darum kämpfte, unabhängig von Klasse und Geschlecht, unabhängig von Normen und Regeln, in all ihren Facetten sie selbst sein zu dürfen. «Le deuxième sexe» (Das andere Geschlecht), wohl ihr wichtigstes Werk, wird in der Graphic Novel gut in Szene gesetzt, ebenso, dass sie sich dem Kampf gegen das Verbot gegen Abtreibung anschloss. Der Comic extrahiert das feministische Werk von Simone de Beauvoir. Und das ist gut gelungen. Ihre politische Arbeit und das Weltbild, das sich bei ihr daraus entwickelt, wäre für mich herausstellend zu sehen, das hier leider so gut wie ausgelassen wird, ebenso wie zwei Weltkriege, die hier gar nicht stattfinden, ihr Leben aber sehr prägten. Auch ihre lebenslange innige Beziehung zu Jean-Paul Sartre, ihr Seelenpartner, mit dem sie alles besprach, fällt hier fast ganz heraus und andere wichtige Männer. Die Frau, die fast ohne Männer auskommt, so mag man nach dieser Lektüre denken – aber es war genau das Gegenteil. Auf der einen Seite ist die Philosophin gut herausgestellt, doch die wichtige Schriftstellerin kommt kaum vor. Diese Biografie lässt mich ein wenig ratlos zurück. Einerseits ist ein Teil von de Beauvoir gut herausgearbeitet – aber andere bedeutende Teile fehlen, ohne die sie eben nicht die großartige Philosophin hätte werden können. Und genau dieser Zusammenhang ist für mich von Gewicht. Sprachlich ist der Comic reduziert, auf die bekannten Schlüsselsätze fokussiert. Die Grafiken sind schwarz-weiß, mit leichten Grautönen gehalten, einzelne Teile in Beige oder Grünbeige hervorgehoben, bzw. hinterlegt. Simone de Beauvoir, typisch mit ihrem geknoteten Schal im Haar, nie ohne Zigarette. Die riesigen herausstechenden Nasen aller Figuren haben mich irritiert, leider stets abgelenkt vom Rest des Bildes. Im Prinzip finde ich die Graphic Novel gut als Ausschnitt eines Teils der Schriftstellerin, aber leider fehlen mir prägende Lebensteile, womit eine Biografie nicht komplett wäre. Die Bedeutungslosigkeit der Männer (wichtige werden nicht erwähnt und Satre heruntergesetzt) hat mich verwundert, womit die Graph Novel für mich nicht ganz stimmig ist. Der Rowohlt Verlag gibt ein empfohlenes Lesealter ab 14 Jahren, das passt für mich. Julia Korbik ist freie Journalistin und Autorin in Berlin. Bei Rowohlt erschien von ihr zuletzt «Oh, Simone! Warum wir Beauvoir wiederentdecken sollten», das zahlreiche Leser*innen dazu verführte, sich neu in Simone de Beauvoirs Werk und Leben zu vertiefen. Ihre journalistischen Schwerpunkte sind Politik und Popkultur aus feministischer Sicht. Für ihre Arbeit wurde sie mit dem Luise-Büchner-Preis für Publizistik ausgezeichnet. Julia Bernhard ist Illustratorin und Comiczeichnerin. Gemeinsam mit ihrer persönlichen Assistentin Pina, die außerdem ihr Hund ist, lebt und arbeitet sie in Berlin. Ihre Comics und Illustrationen erschienen u. a. im New Yorker, The Nib und im Stern. Ihr Comic-Debüt «Wie gut, dass wir darüber geredet haben» wurde 2020 mit dem Max und Moritz-Preis für das beste deutschsprachige Comic-Dübut ausgezeichnet.

zurück nach oben