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«HAST DU MIT DEINER . MUTTER . FREUNDIN . SCHWESTER . TOCHTER . ARBEITSKOLLEGIN NOCH EINE RECHNUNG OFFEN? MACH SIE FERTIG, DAS GESETZ STEHT HINTER DIR ;=) #FRAUENSCHULDEN #WEITMANNSCHULDENGESETZ» Eine beinharte Dystopie, bei der man gleich auf den ersten Seiten Schnappatmung bekommt! Ein kleines Land namens Sandburg erlässt ein neues Gesetz, dass jedem Mann nach § 5.1 des «Weitmannsschuldengesetz» erlaubt, jeder Frau, mit der er in verwandtschaftlicher Beziehung steht, jemals mit ihr anderweitig in Beziehung gestanden hat, «jede geschenkte, geborgte und investierte Summe» in Geldwert zurückzuverlangen. Die Rechtmäßigkeit der Forderung wird nicht inhaltlich geprüft, guter Leumund (den hat man als Mann) reicht aus. Obendrauf gibt es für jede Forderung eine staatliche Prämie. «§ 5.1.2 Wenn die Frau/die Frauen dieser Aufforderung, die binnen vierzehn Tagen gerichtlich durchgesetzt werden kann, nicht nachkommt/en, wird ein permanenter Eintrag in die öffentliche Frauenschuldenliste (www.frauenschulden.gv.sa ) erfolgen, die es der Frau/den Frauen nicht mehr möglich machen wird, eigenständig · einen Miet-/Kaufvertrag abzuschließen, · Handelsgeschäfte jeglicher Art durchzuführen (Einkaufen in allen Varianten), · einen Dienst-/Werkvertrag zu unterzeichnen, · ein Bankkonto zu eröffnen, · Versicherungen abzuschließen, · die Scheidung vom Ehemann einzureichen, · eine eheliche Verbindung einzugehen, und sie somit de facto weitgehend entmündigt.» Greta ist im sechsten Monat schwanger. Eigentlich ein Grund zur Freude, denn Greta und Henri haben lange Zeit versucht, Kinder zu bekommen. Doch Henri, Gretas Verlobter, verlangt seine Investitionen in Greta zurück. Bezahlen kann sie ihn nicht … Nein, er habe nicht die Absicht, sich zu trennen, er wolle schlichtweg zurück, was ihm zusteht, auch wenn Greta das gemeinsame Baby in ihrem Bauch trägt. «Es ist einfach ein bisschen geil, Macht zu haben.» 14 Tage habe sie Zeit. Greta ist entsetzt über Henris Kälte und Gleichgültigkeit. «Nichts ist wichtiger als diese Suppe. Und der Gehorsam der Mutter. Beides, so sagt er gelegentlich, habe er mit der Heirat, als Ernährer der Familien, erstanden.» Greta wendet sich an ihre ältere Schwester, nachdem Mutter und Schwiegermutter die Hilfe ausgeschlagen haben. Es folgen Rückblicke, die zeigen, in welch verstrickter Familiensituation die beiden aufwuchsen: der Vater als Sinnbild des Patriarchats. Die Mutter, die jeden Tag aufs Neue versuchte, ihren Ehemann nicht gegen sich oder die Töchter aufzubringen. Greta, das vom Papa verhätschelte jüngere Kind, die Mutter und Schwester überwachte, verpetzte, und Elise, die Ältere, die extrem unter dem Vater litt, eine Mutter die duckend unter dem Radar lief, um bloß nichts falsch zu machen. Die alle Demütigungen herunterschluckt. Die nicht die Familie verlassen konnte, weil ihr täglich gepredigt wurde, was dann passieren würde. Die femininen Teile der Familie, die vor dem Familienoberhaupt knien mussten, wenn dieser ein neues Familiengesetz verkündete. Eine toxische Familie, geprägt von patriarchaler Gewalt, Missbrauch und Manipulation. Frauen, die bereits als Kind auf Linie getrimmt werden, dem Mann zu gehorchen. Der Mann, der das Zepter in der Hand hat zu lenken, zu bestrafen, sollte einer die Linie übertreten, Denunziation zu loben. Mütter, die in ihre Söhne investiert haben, werden nun mit Forderungen der Söhne konfrontiert, für was auch immer, die es nun auf das Erbe der Mutter abgesehen haben. Das Halali ist geblasen, die Jagd auf die Frauen eröffnet. Eine verstörende Welt. Anna Herzig schreibt in reduziertem Stil mit wuchtigen Leerstellen; die Verdichtung gibt dem Text die Kraft. Eine beklemmende Gesellschaft, die letztendlich die Frauen zu rechtlosen Individuen klassifiziert. Ohne Kapital keine Macht, mit Schulden eine Gesetzlose. Eine Dystopie – die, wenn wir ehrlich sind, allerdings mehr oder weniger in einigen Ländern dieser Welt ähnlich strukturiert ist. Eine nicht vorstellbare Form für unsere Gesellschaft, eine, die es dem Lesenden eiskalt den Rücken herunterlaufen lässt. Mancher Mann mag sich dabei die Hände reiben. Drum prüfe genau, bei welcher Regierung frau sein Kreuz macht! Anna Herzig ist Schriftstellerin, Drehbuchautorin und Künstlerin. Sie wurde 1987 als Tochter eines Ägypters und einer Kanadierin in Wien geboren. Herzig hat mehrere Bücher, u. a. bei Voland & Quist sowie beim Otto-Müller-Verlag veröffentlicht. Der Roman „12 Grad unter Null“ ist eines ihrer persönlichsten Werke. In ihrer eindringlichen, direkten Sprache lässt sie uns spüren, was es bedeutet, wenn die Gesellschaftsstrukturen, in denen wir leben, bis zum bitteren Ende gedacht werden.