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letterrausch

Posted on 9.10.2023

Lauren Groff beginnt ihren neuesten Roman „Die weite Wildnis“ in medias res: Ein junges Mädchen, sie kann allerhöchstens sechzehn sein, flieht. Sie flieht vor den Schrecken des Hungers in einer der ersten englischen Siedlungen auf dem amerikanischen Kontinent. Sie flieht vor Fremdbestimmtheit (sie ist Dienerin) und vor übergriffigen Männern und eben vorm sicheren Hungertod. Da ist es ihr auch egal, dass in dieser endlosen, unbekannten Wildnis tiefster Winter und bitterste Kälte herrschen. Sie hat Stiefel, einen Mantel, einen Becher, ein Messer. Sie ist fest entschlossen, ihren Weg zu gehen. Wohin das namenlose Mädchen fliehen will, was ihr Ziel ist, bleibt unklar und verwaschen. Die vereinzelten Menschen, die ihr in der Wildnis begegnen, empfindet sie immer eher als Feinde denn als rettendes Ziel. Irgendwo ganz versteckt im Hinterkopf hat sie die Idee, in Richtung der französischen Siedlungen im Norden zu fliehen, denn sie spricht die Sprache (zumindest ein bisschen). Doch so recht glauben mag man das als Leser nicht. Eher geht es in „Die weite Wildnis“ um das Erforschen der eigenen inneren Wildnis genau so wie der umgebenden äußeren Natur. Das Eintauchen des Individuums in die schreckliche Herrlichkeit der Welt. Es geht um das Erkennen, dass wir kleine Partikel im großen Ganzen sind, während die Akzeptanz dieser Nichtigkeit gleichzeitig Stärke und einen Lebenssinn verleihen. Andere Autoren, die über den Menschen in der amerikanischen Weite geschrieben habe, schauen den Leser von den Seiten dieses Romans an: Cormac McCarthy genauso wie Jon Krakauer. Wahrscheinlich kann man bestimmte Aspekte eines solchen Buches nur verstehen, wenn man eben weiß, wie es ist, in einem derart großen Land zu (über)leben. Doch auch für das europäische bzw deutsche Publikum gibt es hier genügend Anknüpfungspunkte, denn Lauren Groff bringt mit ihrer recht simpel gestrickten Handlung trotzdem reichlich Saiten zum Klingen. Sie schreibt darüber, wie es ist, eine Frau zu sein in einer Welt, die von Männern dominiert wird. Wie es ist, wenn man als Dienerin keine eigene Entscheidungsgewalt hat. Wie es ist, wenn selbst die eigene Herrin nicht verhindern kann, dass man vom Sohn des Hauses vergewaltigt wird. Das Mädchen entflieht all diesen Prozessen in eine feindliche Natur hinein, die sie trotzdem als wohltuender empfindet. Es ist ein Kampf, hier zu überleben – nicht zu erfrieren und nicht zu verhungern. Und doch findet sie in diesem Kampf auch Schönheit und Erfüllung. Gegen Ende imaginiert sie sich sogar als alte Frau einsam in einer Hütte im Wald, wo sie abgeschnitten von aller Zivilisation ein erfülltes Leben führt. Ein hartes Leben und eines voller Entbehrungen - aber ohne Bitterkeit, dafür in simpler Schönheit. Lauren Groff ist eine beeindruckend gute Schriftstellerin. Obwohl vieles in diesem Roman alltäglich und vielleicht auch „unliterarisch“ erscheint – es geht eben oft um den täglichen Kampf um die nächste Mahlzeit oder den nächsten warmen Schlafplatz –, wird es nie langweilig oder banal. Das liegt einerseits daran, dass Groff ihre Protagonistin zu so einer rührenden Kämpferin macht, dass man beim Lesen unbedingt mit ihr mitfiebern muss. Man ist sofort und immer bei ihr, und zwar ganz nah. Und andererseits ist Groff unglaublich gut im „nature writing“. Was sie hier beschreibt ist immer plastisch, fast körperlich und dabei in wunderbare Sprache gegossen, ohne jemals ins Blumige oder Kitschige abzudriften. Mit jedem Buch katapultiert sich Groff auf die nächste Stufe des Olymps der amerikanischen Gegenwartsliteratur. „Die weite Wildnis“ sei jedem ans Herz gelegt, der Gefallen an stilistisch und sprachlich herausragender Literatur hat. Und jene, die sich für die weibliche Erfahrung in einer männlichen Welt interessieren, werden hier auch fündig. Und schlussendlich: Wer Lauren Groffs andere Bücher mochte, wird auch hier nicht enttäuscht werden.

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