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gwyn

Posted on 9.10.2023

«Der Wert der Rasse für die Volksgesundheit, auch die psychische Volksgesundheit, kann gar nicht oft und stark betont werden. Die Aspekte der Rassenforschung spielen eine weitaus wichtigere Rolle in der Bewertung des Zustands eines geistig gestörten Menschen … Die schädliche Wirkung minderwertigen Erbguts.» Gleich vorweg – dies ist kein Krimi zum Einsteigen in eine Serie. Volker Kutscher hat vor 15 Jahren die Reihe der Gereon-Rath-Krimis begonnen, und es ist nicht nur eine fortlaufende Geschichte im Unterstang (im Oberstrang natürlich jeweils ein abgeschlossener Fall) – diese Reihe ist ebenfalls deutsche Geschichte, sorgfältig recherchierten und historisch überzeugend und atmosphärisch. Wir begleiten Kommissar Gereon-Rath seit 1929, «Der nasse Fisch», frisch in Berlin angekommen, der Sitte zugeteilt durch die Weimarer Republik. Er wird in die Mordkommission versetzt, die Zeiten ändern sich und auch die Regierung. Alle Romane bauen aufeinander auf, zeitlich wie inhaltlich und differenziert historisch. Gereon muss vorsichtig sein, denn während der Nazidiktatur gerät schnell man ins Visier. Der letzte Band ging bis zu den Olympischen Spielen 1936 – und am Ende ist Gereon Rath tot. Na ja, zumindest sieht es so aus. Doch seine Leiche wird nicht gefunden. Die Gereon-Rath-Krimis wurden unter dem Titel «Babylon Berlin» verfilmt, wobei Fernsehserie und Bücher nicht mehr viel miteinander zu tun haben. «Eine einzige eklig eitle und verlogene Selbstbeweihräucherung der Nazi-Clique und ihres selbsternannten Führers.» Nur drei Menschen, wissen Bescheid: Gereon Rath ist untergetaucht. Nicht einmal seine Ehefrau Charlotte (Charly) ist sich sicher, ob lebt oder wirklich erschossen wurde, als er von der Brücke in den Landwehrkanal fiel. Die Beerdigung wird gefeiert. Charly, nun offiziell Witwe, hat viele Sorgen – sie ist die Hauptprotagonistin in diesem Band. Eigentlich hatte sie vor, Nazideutschland mit ihrem ehemaligen Pflegesohn Fritze, zu verlassen und nach Prag zu ziehen. Doch nun muss sie ihn zunächst aus der U-Haft herauspauken, die er, wie auch seine Freundin, in der Psychiatrie verbringen. Um den Berliner Funkturm findet gerade die Hitler-Ausstellung «Gebt mir vier Jahre Zeit» statt, die von der Propagandamaschine gewaltig inszeniert wird. Bei der Olympiade im Vorjahr war ein Mord geschehen, der von Regierungskreisen vertuscht werden soll. Fritzes damalige Zeugenaussage hierzu passt nicht in die offizielle Version. Darum will man ihn in der Klapse kaltstellen. Doch Charly schafft es, ihn herauszuholen – unter der Auflage eines Kontaktverbots zu ihr; er muss zurück zur Familie Rademacher, linientreue Parteigenossen. Parallel wird in einer Garage in einem Auto ein toter SS-Offizier gefunden, zwar an Abgasen erstickt, aber wohl nicht ganz freiwillig. Dieser Mann war im Jahr zuvor mit Greta liiert, der besten Freundin von Charlotte Rath, mit der sie zusammenwohnt. Greta ist seit dieser Nacht verschwunden. Sie hatte doch längst mit dem Typen Schluss gemacht; irgendetwas stimmt hier nicht. Charly fängt an zu recherchieren. Doch es stellt sich heraus, dass Greta doch wohl Kontakt zu dem Mann hatte, und weil sich nicht auftaucht, sie steht unter dem Verdacht, die Mörderin zu sein. Je tiefer Charly gräbt, umso weiter öffnen sich die Kreise: Die SS-Leute sind die schlimmsten Kriminellen im Land – überhaupt kein Problem, denn die SS ist die oberste Polizeiinstanz. Hier wird verhaftet, weggesperrt, hingerichtet, Unfälle vorgetäuscht, was das Zeug hält. Charly, die früher mit Gereon oft ins Gebet ging, wenn der lediglich an der Gerechtigkeit und der Lösung des Falls unterwegs war, dabei nicht immer zu legalen Ermittlungsmethoden griff, versteht nun, was ihn umtrieb. Polizeisiegel brechen, einbrechen, Unterlagen aus dem Präsidium klauen, der Dietrich wird ihr liebstes Werkzeug; sie stapft in Gereons Schuhsohlen. Wem kann man in diesem Land überhaupt noch trauen? Am besten niemandem – doch irgendwer muss ihr zur Seite stehen. Gereon Rath ist in einem Kaff bei Wiesbaden untergetaucht, lebt dort unter falschen Namen und fährt für einen Winzer Wein aus. Nicht sein Traumjob, aber derzeit für ihn die beste Möglichkeit. Die SS sucht noch immer nach ihm; man ist sich nicht sicher, ob er seinen Tod nur vorgetäuscht hat. Doch dann stöbert ihn vor einem Hotel Gräfin Sorokina auf, eine russische Adlige und alte Bekannte, die mit einem Batzen Geld abgehauen ist und ebenfalls unter falschem Namen lebt. Sie erpresst Rath … doch der Zufall bringt ihm Glück. Er darf mit der Gräfin in einem Luxus-Luftschiff den Atlantik überqueren dem legendären Zeppelin «Hindenburg». In Amerika wäre er sicher. Am 6. Mai 1937 explodierte bei der Landung in Lakehurst, New Jersey, der Zeppelin. Charly, die gerade die Gewissheit erlangt hatte, dass Gereon noch lebt, unterwegs nach Amerika ist, ist fertig mit den Nerven. Nun ist sie wirklich Witwe. Doch was sie nicht weiß: Gereon hat überlebt, arbeitet nun als Postbote in New York. «Die müssen doch irjendwohin mit ihren Fahrzeugen. Stellen Sie sich det doch mal vor: die Kantstraße rechts und links mit Autos zujeparkt.» (so der Garagenbesitzer, der erklärt, dass es auch ein paar Selbstfahrer neben den Chauffeuren gäbe. Der historische Krimi wartet mit einer Menge unerwarteten Wendungen auf, ist voller Cliffhanger, beschreibt atmosphärisch den beklemmenden Zeitgeist und das Leben vor dem 2. Weltkrieg: Berliner Kneipen, Cafés, Jazzkeller, Propaganda-Veranstaltungen, Gebäude; das Machtgehabe der NS-Regierung. An Krieg denkt niemand. Man glaubt Hitlers Friedensbeteuerungen. Allerdings probt man im Reich ganz unverblümt Verdunklung, und es gibt für die Bevölkerung Übungen, den Luftschutzkeller unter Fliegeralarm aufzusuchen. Es sind ja nur Übungen … Fein recherchiert werden historische Ereignisse, Persönlichkeiten und Gebäude eingeflochten, wie das Konzentrationslager Sachsenhausen oder Hermann Görings Waldhof Carinhall in der Schorfheide Brandenburgs, wo er abends auf dem Dachboden mit der Märklin-Modelleisenbahn spielte. Dieser Tick von Göring ist interessant eingebunden. Bei Gereon Rath in New York tobt parallel ein Drogenkrieg. Stimmungsvoll bis bedrückend die Stimmung in Deutschland, wo Kriminelle das Sagen haben, wo Denunziation willkommen ist – man aufpassen muss, wegen einer unbedachten Plapperei unter Verdacht zu geraten, ein Vaterlandsverräter zu sein. Eine klasse Fortführung der Serie, spannend, komplex, figurenreich und mit historischem Berliner Flair. Die Figurenzeichnung ist hervorragend, den im Laufe der Zeit entwickelt sich jeder. Niemand ist gut oder böse (bis auf die ganz Bösen), viele sind gefangen in ihren Lebenswegen und Denkweisen, andere werden gezwungen oder erpresst oder eifern ihrer Karriere nach oder ihnen sitz schlicht die Angst im Nacken. Wie weit kann man sich ducken oder wegschauen? Wie weit ist man bereit, für sein Gewissen einzustehen und über den Schatten zu springen? Wie feige oder wie gewissenlos entpuppt sich der ein oder andere? Nun warten wir auf den zehnten und letzten Band der Reihe, der wie Volker Kutscher angekündigt hat, der letzte Band sein wird, in 1938 spielt, mit den Novemberpogromen endet, wo Deutschland endgültig mit der Zivilisation gebrochen hat. Eine Serie von Kriminalromanen, die es sich lohnt zu lesen; historischer Krimi über die 20-er und 30-er Jahre in Deutschland. Volker Kutscher wurde am 26. Dezember 1962 in Lindlar im Bergischen Land geboren und wuchs auf in Wipperfürth. Nach dem Studium brotloser Künste (Germanistik, Philosophie und Geschichte) arbeitete er zunächst als Tageszeitungsredakteur, bevor er sich dem Romanschreiben zuwandte. Kutscher lebt in Köln und Berlin. Seinen ersten Kriminalroman Bullenmord schrieb er 1996 zusammen mit Christian Schnalke. Nach weiteren, im Bergischen Land angesiedelten Regionalkrimis (Vater unser, 1998; Der schwarze Jakobiner, 2001), begann Kutscher im Jahr 2007 mit dem Roman «Der nasse Fisch» seine Serie um den Kriminalkommissar Gereon Rath im Berlin der späten 20er und frühen 30er Jahre. 2009 folgte der zweite Band «Der stumme Tod», 2010 der dritte Rath-Krimi Goldstein, 2012 «Die Akte Vaterland», 2014 «Märzgefallene», 2016 «Lunapark», 2018 «Marlow» 2020 «Olympia» und schließlich der neunte Rath-Roman «Transatlantik». Die Reihe soll den Ermittler Gereon Rath noch bis ins Jahr 1938 führen. In der Illustrierten Reihe der Berliner Künstlerin Kat Menschik erschien 2017 der Erzählband «Moabit», der ein Ereignis aus der Jugend von Gereon Raths großer Liebe Charlotte Ritter schildert. 2021 setzen Kutscher und Menschik die Zusammenarbeit mit dem Band «Mitte» fort, einer von Menschik illustrierten Erzählung in Briefen, die Friedrich Thormann, den ehemaligen Pflegesohn der Raths, im Herbst 1936 begleitet. In den vergangenen Jahren veröffentlichte Kutscher in Zeitschriften und Anthologien zudem einige Kurzgeschichten. Der Gereon-Rath-Krimi wurde in der ARD-Serie «Babylon Berlin» verfilmt.

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