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Posted on 8.10.2023

Vacca Vale, Indiana – nach einer Industrie-Pleite und gleich zwei Großüberschwemmungen kann nur noch der in der Bevölkerung deutlich zwiegespalten aufgenommene Plan, im städtischen Naherholungszentrum einen Silicon Valley Abklatsch zu errichten, der sterbenden Stadt neues Leben einhauchen.  Inmitten dieser Hoffnungslosigkeit steht ein Wohnbunker mit günstigen Mieteinheiten, unter seinen Bewohner'innen "der Kaninchenstall" genannt.  Inspiriert durch wahre Geschichten von sterbenden Städten in Nordamerika, wie Flint, Michigan mit seinem vergifteten Grundwasser, konzentriert sich Tess Gunty auf die Menschen, die hier leben. Was macht es mit ihnen, sich an einem Ort zurechtfinden zu müssen, um den der Rest der Welt einen Bogen macht?  Welche Energien setzt der Zerfall der vertrauten Umgebung frei? Welche Träume frisst er? Ein beeindruckend vielfältiges Netz von Figuren spinnt sich um die Hauptperson dieser Erzählung: Blandine, eine junge hochbegabte Frau, die gerade den Fängen der staatlichen Jugendfürsorge entwachsen ist und sich ihre erste eigene Wohnung mit drei jungen Männern ihres Alters teilt. Blandine ist klug, quälend empathisch, besessen von katholischen Mystikerinnen (insbesondere Hildegard von Bingen) und absolut unfähig Freundschaften einzugehen.  Mit drastischen Mitteln kämpft sie gegen den erneuten Ausverkauf ihrer Heimatstadt an. "Blandine hat den Verdacht, wenn Medizinstudenten ihren Körper öffnen würden, fänden sie darin ein Miniatur-Vacca-Vale. Keine Organe. Ein Netz aus Highways, Einwegversuche menschlichen Aufstiegs, ein geplünderter Ort, ..." Erstmal steht jede der Figuren allein da, all ihre Gedanken sind vollkommen einzigartig, wenn auch nachvollziehbar – sie tauschen sich wenig aus und wenn dann nur im Effekt.  Tess Gunty setzt all dem die Schönheit und Präzision der Sprache entgegen. Sie erzählt eine Figur durch die Augen einer anderen und straft sie dann lügen, stellt unsere ersten Eindrücke auf den Kopf. Jeder kann alles sein. Oder nichts. Und darin sind wir alle gleich. Gunty entwickelt starke Verbindungen zwischen allen sichtbaren Orten, Menschen und Ereignissen, so dass sie in einen fast orgiastischen Kontakt miteinander treten. "Der Kaninchenstall" ist ein erstaunliches Debüt, das einem schon auf Seite eins die Tränen in die Augen treibt. Man braucht Zeit für dieses Buch, nicht, weil es kompliziert ist oder sperrig, sondern weil einem permanent der Mund offen stehen bleibt vor der Opulenz dieser Sprache. Eigentlich ein Vorlesebuch für die große Bühne.  Deshalb hier auch noch ein großes Kompliment an die herausragende Übersetzung von Sophie Zeitz. Ein Beispiel direkt aus der geballten Faust jener ersten Seite:  "Messer, Baumwolle, Huf, Bleiche, Schmerz, Fell, Seligkeit – als sie ihren Körper verlässt, ist sie alles gleichzeitig. Sie ist jede Bewohnerin, jeder Bewohner ihres Mietshauses. Sie ist Kehricht und Cherub, ein Gummischuh am Meeresgrund, der orange Overall ihres Vaters, eine Bürste, die durchs Haar ihrer Mutter gleitet."  Tess Gunty wurde für ihr Debüt 2022 mit dem National Book Award ausgezeichnet – klingt krass, ging aber auf keinen Fall anders.

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