Yvonne Franke
In den letzten Jahren haben Stephen Kings Romane bei mir nicht immer den, seit früher Jugend antrainierten, pawlowschen Freudenschrei gerechtfertigt, der mir bei jeder seiner Neuerscheinung entfährt. Einige Male hat mir die Besessenheit gefehlt, die sich vom Autor auf die Leserin überträgt, das Fieberhafte im Vorantreiben der Geschichte, die unvorhersehbaren Falltüren. Meine Aufregung war etwas abgestumpft, loderte aber wieder in alter Kraft auf, als ich erfuhr, wer die Hauptfigur des neuen Grusel-Werks sein würde: Holly Gibney, die sich in Stephen Kings "Mr.Mercedes"-Reihe von der Nebenfigur für mich, und anscheinend auch für den Autor selbst, zu einem vielversprechenden Liebling entwickelt hatte. King sagt dazu: "Holly sollte eigentlich nur eine Nebenrolle in 'Mr. Mercedes' spielen, aber sie hat zuerst das Buch gestohlen – und dann mein Herz." Holly Gibney ist hinreißend merkwürdig, eine Außenseiterin mit seltsamen Angewohnheiten und klingenscharfem Verstand. Bis ins fortgeschrittene Erwachsenenalter von der klammernden und manipulativen Mutter kleingehalten, liegen ihre Talente auch für sie selbst im Verborgenen. Bis der ehemalige Cop Bill Hodges sie als Ermittlerin für seine Detektei 'Finders Keepers' entdeckt. Kings aktueller Roman "Holly" beginnt kurz nach dem Tod der Mutter und damit mit Hollys innerer Befreiung, die sich natürlich parallel zu einer Reihe von unfassbaren Gräueltaten entfaltet, die es zu untersuchen und aufzuklären gilt. Beginnend mit dem Auftrag, eine verschollene junge Frau zu finden, begegnen Holly immer mehr Geschichten von vermissten Personen, die zunächst keine Verbindung miteinander zu haben scheinen. Wäre da nicht dieser emeritierte Professor für Ernährungswissenschaften – "Mr. Meat". "Holly" hat das Zeug zum Klassiker und steht in der Figurenentwicklung, im Spannungsaufbau, im Anteasern und wieder Wegschnappen von Hinweisen, den kunstvoll eingebetteten Grausamkeiten einer "Misery" in nichts nach. Schon nach den ersten Seiten war mir klar: Jetzt hat er mich. Die 640 Seiten wollen in höchstens drei Happen verspeist werden. Aber nicht nur die aus den besten Zeiten gewohnte Kunstfertigkeit ist wieder da. "Holly" ist politisch und gesellschaftlich höchst aktuell, mutig und schonungslos. Und das alles geht King so leicht von der Hand, dass man versucht ist, den Roman ein zweites Mal zu lesen, um den Autor höchstpersönlich zu entlarven. Denn: wie macht er das bloß? Man spürt jeden Kniff und kriegt ihn doch nicht zu fassen.