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letterrausch

Posted on 1.10.2023

1852 stirbt der Riesenalk aus, ein 80cm großer, pinguin-ähnlicher Vogel, der aufgrund seiner rudimentären Stummelflügel flugunfähig ist. Erhalten sind nur Zeichnungen und ausgestopfte Präparate in verschiedenen naturkundlichen Sammlungen. Wie sich das anfühlt, wenn eine Tierart ausstirbt, dem spürt die französische Autorin Sibylle Grimbert in ihrem kurzen Roman „Der Letzte seiner Art“ nach. Der junge Franzose Gus reist in den Norden, um naturkundliche Forschungen zu betreiben. An Bord eines Schiffes wird er Zeuge, wie Matrosen zu einer kleinen Insel übersetzen und eine Riesenalkkolonie um des Fleisches willen brutal niedermetzeln. Gus rettet einen zufällig vorbeischwimmenden Alk mit gebrochenem Flügel – zunächst in der Absicht, ihn zu studieren und dann nach Frankreich an die Universität zu schicken. Anfangs leidet der Vogel in seinem Käfig still vor sich hin. Zwar füttert Gus ihn regelmäßig mit Fisch und überschüttet ihn – zum Leidwesen der Haushälterin – mit eimerweise Seewasser. Doch der mit dem Namen Prosp ausgestattete Riesenvogel hockt zwar majestätisch, aber doch zunehmend lustlos in seinem Käfig. Also beschließt Gus, ihn, mit einer Leine versehen, aufs Wasser mitzunehmen, sodass er schwimmen und jagen kann. Dieser Initialmoment ist der Beginn einer lebenslangen Freundschaft zwischen Mensch und (Wild)Tier. Für den Rest der Handlung erforscht Grimbert – durchaus auch wissenschaftlich fundiert, wie die umfangreiche Literaturliste am Ende des Romans beweist –, wie sich Beziehungen zwischen Menschen und Tieren bilden, warum sie sich bilden und welche Spannungsfelder sich hier ergeben. „Der Letzte seiner Art“ ist eine Versuchsanordnung, an der Grimbert verschiedene philosophische Fragen erörtern möchte. Dabei stattet sie ihren Protagonisten mit einer recht modern anmutenden Denke aus, die im Roman etwas anachronistisch anmutet. Während sein Umfeld kein Problem damit hat, Tiere auszunutzen, zu töten und auszubeuten, kommt Gus mehr und mehr zu der Erkenntnis, dass er Prosp als gleichwertigen Partner empfindet, dem er auf Augenhöhe begegnen muss. „Tiere hatten verkauft oder verspeist zu werden, oder sie mussten arbeiten“: Das denkt Gus schon bald nicht mehr. Stattdessen versteht er, dass Mensch und Tier Abstriche und Zugeständnisse machen müssen, dann aber auch für sich Gewinn aus dem Zusammenleben ziehen können. „Der Vogel hatte ihm auf seine Weise vertraut, hatte die neue Lebensweise an Gus’ Seite akzeptiert, war bereit, sich seinem Willen zu unterwerfen und nur noch ins Meer zu gehen, wenn Gus es erlaubte. Im Gegenzug war Gus ihm als Garant für sein Überleben steten Schutz und ausreichend Nahrung schuldig.“ Denn wie sich im Verlauf der Handlung herausstellt, ist Gus irgendwann eben der titelgebende Letzte seiner Art. Alle anderen Kolonien des Riesenalks sind verschwunden und auch Gus’ verzweifelte Suche auf verschiedenen Inseln bringt keine weiteren Tiere zum Vorschein. Auf anrührende Art beschreibt Grimbert, wie Gus unter der emotionalen Last, dem Moment des Verschwindens beizuwohnen, schier zu verzweifeln droht. Was macht dieser Gedanke mit einem Menschen? Und was mit einem Tier? Denn je länger Prosp in Gefangenschaft lebt, desto mehr menschliche Züge lässt Grimbert ihm angedeihen. Ob sich der Vogel tatsächlich seinem Gegenüber anpasst oder ob Gus nur zunehmend menschliche Eigenheiten an ihm wahrzunehmen meint, das darf jeder Leser für sich entscheiden. Wie Grimbert die Gravitas, der Erhabenheit, die Zuneigung des Tiers für „seinen“ Menschen beschreibt, ist jedenfalls ein zentraler Aspekt der Erzählung. Auf der Handlungsebene hat Sibylle Grimbert einen dichten, anrührenden und ergreifenden Roman über die Freundschaft von Mensch und Tier geschrieben. Doch der Roman weist auch über die Handlung hinaus und stellt Fragen zum Thema Mensch/Tier, die heutig und aktuell sind. Inwieweit ist ein Zusammenleben, eine Freundschaft möglich? Inwieweit darf ich ein Tier nutzen? Gleicht der Gewinn für das Tier (Sicherheit, eine immerwährende Futterquelle) die Tatsache aus, dass es nicht frei ist? Inwieweit ist Freiheit vorzuziehen, wenn sie Tod bzw. wie in Prosps Fall sogar den Verlust der ganzen Art zur Folge hat? Und was, wenn das Tier ohne den Menschen gar nicht mehr überlebensfähig wäre? Viele Fragen schwingen hier mit, die sich – mindestens – jeder verantwortungsvolle Tierhalter schonmal in der ein oder anderen Art selbst gestellt haben wird. Grimbert liefert keine vorgefertigten Antworten. Sie will nur Anregungen geben, über die man nach der Lektüre nachsinnen kann. Ich habe den Roman mit Gewinn gelesen. Eine Lektüre, die lohnt.

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