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Clara erzählt ihre Geschichte, in einer abgeschiedenen Klinik in den Bergen. Es ist die Geschichte einer jungen Frau, die sich selbst verloren hat und eine eigene Welt aufgebaut hat. Eine Welt, in der man nur lange genug an etwas glauben muss, bis es auch tatsächlich wahr wird. Für Clara – und die Menschen um sie herum. Sie gibt telefonische Horoskopberatung und erfüllt so den Anrufern deren Wünsche, sie ermöglicht Siri beim Roulette ungeahnten Reichtum. Nur sich selbst kann sie nicht glücklich machen, da ihr dazu der Glaube fehlt. Doch was für ein Glaube soll ihr überhaupt Antworten oder Trost liefern? Der Journalist Friedemann Karig spielt in seinem Roman „Die Lügnerin“ mit Wahrheit, Lüge und der Macht des Glaubens an etwas. Für mich ist es ein wenig die literarische Umsetzung seines Buchs „Erzählende Affen. Mythen, Lügen, Utopien – Wie Geschichten unser Leben bestimmen.“, in dem er gemeinsam mit seiner Podcast Partnerin Samira El Ouassil bereits den ewigen Narrativen und Geschichten der Menschheit nachging. Allerdings ist seine Protagonistin weder klassische Heldin noch Antiheldin und auch als Leser weiß man lange nicht, was innerhalb der Fiktion Wahrheit und was Lüge ist. Clara ist mit ihrer Überzeugungskraft lange Zeit harmlos, sie verbessert ein wenig die Welt für einzelne, bleibt aber zu mutlos, um aus ihrer Gabe etwas wirklich Wichtiges und Bedeutendes zu machen. Sie hat kein Ziel und wandert in der Welt entsprechen verloren umher. Sie fühlt sich unvollständig, kann jedoch das Teil, das ihr fehlt, nicht finden. Glaube im religiösen Sinn, Glaube in Form eines motivierenden Mantras, Glaube als Flucht aus dem Selbstdenkenmüssens, Glaube als selbsterfüllende Prophezeiung – alle Spielarten von Varianten und Möglichkeiten der Realität, von Erklärungen für nicht Erklärbares, für Sinn für nicht Sinnhaftes spielt der Roman durch. Biete sie uns als Leser an. Entlarvt vielleicht auch die eine oder andere Denkweise, deren Sinnlosigkeit man sich durchaus bewusst ist, die aber, ach ja, doch einfach nur Hoffnung spendet. Clever aufgebaut entfaltet der Roman erst nach und nach sein volles Potenzial. Eine Einladung zum Nachdenken und aufgrund der sprachlichen Pointiertheit auch zum Genießen.