stricki
"Opa Paul hatte sich als Einziger aus seiner Familie für ein Leben im Osten entschieden."(S.37) Und seine Enkeltochter Stine, die 1989 erst drei Jahre alt war, fängt an seine Lebensgeschichte zu recherchieren, als sie selber Mutter wird und die Erinnerungen an ihre Kindheit sie überfluten. Anne Rabe schreibt großartig. Intensiv! Sie beschreibt die Kindheit von Stine, den ostdeutschen Alltag, die Gewohnheiten, die sich nicht einfach durch den Fall der Mauer ablegen lassen. Die gewalttätige Mutter, die in der DDR als Erzieherin arbeitete und voller Stolz erzählte, dass die damaligen Erziehungsmethoden wie Kinder schreien lassen, feste Essenszeiten oder Kopfnüsse den Kindern nicht geschadet haben. Was für eine schreckliche, hasserfüllte Mutter, die es so allerdings auch im Westen Deutschlands tausendfach gegeben hatte. Als Wessi vergleiche ich immer wieder fasziniert die ostdeutsche mit meiner westdeutschen Kindheit, erkenne viele Ähnlichkeiten, aber auch Unterschiede. Und frage mich, wieviel Kriegstrauma steckte in diesen Menschen, wieviel Leid wurde hier als Frust an den Kindern abreagiert? Wie können Menschen das hinter sich lassen, ist das möglich? Die Geschwister Stine und Tim verarbeiten in diesem Roman ihre Kindheit gemeinsam, und doch jeder auf seine Weise. Anne Rabe benennt die Dinge beim Namen. Schonungslos. Direkt. Und das finde ich gut und wichtig. Die Nazis auf den Spielplätzen. Die Angst der Großmutter. Ein diffuses Gefühl von Schuld. Die Auswirkungen des DDR-Regimes, das Leben damals. Die Verherrlichung des Sozialismus durch die Väter und Großväter. Vor allem die ihres Großvaters Paul, der ihr immer wieder von seinem Kampf gegen den Faschismus erzählt. Und wenn dafür Menschen erschossen wurden, die die DDR verlassen wollten. Stine fragt sich, was an den Geschichten von Paul dran ist, und die Fakten die sie mühsam zusammenträgt sind ungemein spannend. Erinnerungen können trügerisch sein. Mehr will ich jetzt gar nicht verraten. Von mir eine große Leseempfehlung für dieses beeindruckende Buch.
