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gwyn

Posted on 8.9.2023

Der Anfang: «Meine Mutter war Grundschullehrerin mit Rohrstock und weißem Kittel und sehr streng, leistete aber gute Arbeit in einer Vorstadtschule, die nicht sehr begabte Kinder der Mittelschicht abwärts besuchten. Der beste war Rubén Fiorlandi, der Sohn des Kaufmanns. Meine Mutter ließ ihren Rohrstock auf die Köpfe der Klassenkasper sausen und schickte sie mit Eselsohren aus buntem Karton in die Ecke. Selten machte einer zweimal Unfug.» Yunas López Kindheit ist alles andere als einfach. Zu Hause ist das Geld knapp, ihre alleinerziehende Mutter ist streng und lieblos, die ein Jahr jüngere Schwester Betina ist eine Belastung für beide. «Meine Schwester litt an einer Wirbelsäulenverkrümmung, von hinten und im Sitzen sah sie aus wie ein buckliges Viech mit kurzen Beinen und sehr langen Armen.» Beide besuchen eine «Schule für Minderbemittelte», Betina bleibt drei Jahre, Yuna sechs. Wegen ihrer Lernschwäche wird Yuna als dümmlich abgestempelt. In der Malerei bringt sie alles zum Ausdruck, was sie bewegt und sie erhält Anerkennung und schafft es, sich selbst aus dieser Familie zu lösen, eigenständig zu werden. «Meine Schwester verließ die Schule in der dritten Klasse. Es hatte keinen Sinn mehr. Eigentlich hatte es bei uns beiden nicht viel Sinn und ich ging nach der sechsten Klasse ab. Aber ich lernte Lesen und Schreiben wenn auch letzteres mit vielen Rechtschreibfehlern, das stumme H schrieb ich zum Beispiel nie, wozu auch, wenn man es nicht hört?» Gleich am Anfang berichtet die Icherzählerin uns, dass ihr Vater eines Tages verschwunden war und die Sockenstopferin «meinte meiner Mutter wäre während der Schwangerschaften Leid zugefügt worden, vor allem bei Betina.» Brutale und lüsterne Männer – ein Thema, das sich durch diesen Roman zieht. Ein Kunstprofessor entdeckt das Talent von Yuna, fördert sie, lässt ihre Bilder ausstellen und sie wird ein Star. Er macht sich zu ihrem Vormund, nicht uneigennützig, was Yuna schnell begreift. Er nistet sich im Haus der Mutter ein, kann nicht mal die Finger von der debilen Betina lassen. Männer kommen nur am Rande vor in diesem Roman, aber so ziemlich jeder, der kurz auftaucht, bringt Unglück, hinterlässt Probleme; eine Mischung aus toxischer Männlichkeit und Verantwortungslosigkeit. Abtreibung mit Todesfolgen, Prostitution, ein vertuschter Mord, ausgebeutete Frauen … Yuna entwickelt Persönlichkeit zunächst über das Malen und später übet sie sich in Sprache, in der sie immer ausgefeilter wird, an Wortschöpfungen Spaß hat. Die Entwicklung ihrer Ausdruckskraft ist literarisch dargestellt sehr gelungen. Eine junge Frau, die sich selbst am Schopf packt; der Lesende folgt fasziniert ihrem Entwicklungsweg. Aurora Venturini findet ihre eigene Tonalität und eine für ihre Hauptfigur. «Dann bekam Betina einen extra Stuhl fürs Essen mit einer eigenen Tischplatte und einem Loch im Sitz für Kacka und Pipi. Mitten beim Essen musste sie plötzlich.» Unverblümt erzählt Yuna von ihrer Jugend im argentinischen La Plata der 1940er-Jahre und der sie umgebenden brutalen Realität in einer dysfunktionalen Familie; eine eiskalte, verbitterte Mutter führt das Zepter. Auf der einen Seite amüsant, auf der anderen abgründig bis brutal kommt dieser Stoff daher. Anfangs ist die vor der Welt «versteckte» Yuna extrem naiv, wenn die anderen Mädchen tuscheln, ihre Cousinen über Männer und Sex reden – ihre kleinwüchsige Cousine Petra klärt sie auf. Wörter, die sie nicht versteht, schlägt Yuna im Wörterbuch nach, macht sich Gedanken – und sie findet Gefallen, sich selbst weiterzubilden. Die Icherzählerin hält einen Dialog mit den Lesenden, schüttet ihr Herz und ihre Gedanken vor ihnen aus. Mit der Malerei schafft sie es, eigenständig zu leben und sich unabhängig zu machen. Yuna zieht aus dem Elternhaus aus und lässt die pfiffige Petra bei sich wohnen, was sich letztendlich als Fehler herausstellt. Erst mit 85 Jahren hat Aurora Venturini diesen originellen Coming-of-Age-Roman geschrieben, der nun in der lateinamerikanischen Literatur wiederentdeckt wurde. Empfehlung. «Wir waren nicht gewöhnlich, um nicht zu sagen, nicht normal.» Aurora Venturini (1922-2015) war eine argentinische Schriftstellerin und Übersetzerin, eine Kultfigur unter den lateinamerikanischen Autorinnen, befreundet mit Evita (Eva Perón) und Jorge Luis Borges. Mitte der Fünfzigerjahre verließ sie Argentinien und ging nach Paris, wo sie sich in den Kreisen von Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre bewegte. Zu literarischem Ruhm gelangte sie erst wenige Jahre vor ihrem Tod. Nun wird ihr Werk international entdeckt.

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