Yvonne Franke
Zu den größten Freuden des Viellesens gehört es, neue Stimmen zu entdecken. Menschen, die das Schreiben anders denken, die einen frischen Ansatz gefunden haben, die die Welt an einem bisher versteckten Zipfel zu fassen bekommen haben. Und zu diesen neuen Stimmen zählt für mich seit ein paar Tagen eindeutig der junge britische Autor Jem Calder, dessen Debüt "Belohnungssystem" gerade in der deutschen Übersetzung von Jan Schönherr im claassen Verlag erschienen ist. Schönherr hat auch schon Kerouac und Bukowski in neue deutschsprachige Wortkleider gehüllt, was einem passend erscheint, liest man nun Jem Calder. Der Autor präsentiert die Gegenwart, und nichts anderes als die Gegenwart, mit einer unausweichlichen Wucht. Fast wie losgelöst von bereits Geschriebenem, obwohl er offensichtlich belesen und der Stoff inhaltlich in der Popkultur verankert ist – die Sprache und die gedanklichen Verknüpfungen sind neu. Er erfindet keine Themenwelten, sondern hält sich an Existenzielles – Liebe, Freundschaft, Ehrgeiz, kleine und große Alltagsängste. Und eben darin entfaltet sich der Spielraum für die vielen feinen Beobachtungen von denen man jede einzelne am liebsten auf viel zu große T-Shirts drucken würde. So wie zum Beispiel diese: „Vermutlich dank einer dopaminergen Nervenreaktion auf den alkoholreichen Abend, aber vielleicht auch aus echten Gefühlen heraus registrierte sie, als sie ihn küsste, null Komma null emotionale Spuren von Nervosität oder Unsicherheit, lediglich Stille in den weiten Leerräumen zwischen ihren Gedanken.“