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Buchdoktor

Posted on 13.8.2023

Alte Menschen sagen ungeschminkt, was sie denken; denn sie nehmen keine Rücksicht mehr auf Partner, Kinder oder kapriziöse Kollegen. Jane Campbells Protagonistinnen sind hochbetagt, einsam und am Ende ihres Lebens ernüchtert. In „Katzenbuckel“, der Story mit der Campbell als Autorin entdeckt wurde, realisiert die Icherzählerin, dass sie sich nur noch schwer bücken kann, um die Katze zu bürsten. In ihrem Leben haben längst Sohn und Schwiegertochter Regie übernommen und sie offiziell für zu alt erklärt, um allein zu leben. So erlebt sie ihr Alter als Befreiung, aber auch als Phase der Enteignung und der Respektlosigkeit ihr gegenüber. „Susan und Miffy“ zeigt eine hochbetagte Patientin im Pflegeheim, deren letzte Stunden unerwartet von einer Probepraktikantin verschönt werden – eine für ihr Genre charakteristische Story, die beim Lesen „den Groschen fallen lässt“. Begeistert hat mich „Lockdown-Phantasmen“, eine Fortschreibung der Nach-Covid-Zivilisation in die Zukunft. Campbells Heldin treffen wir in Woche 193 des letzten Lockdowns in Erwartung ihrer „Phantasmen“, sensorischer Erlebnisse, die eine App ihr per Algorithmus zulost auf der Basis ihrer Erinnerungen. Wer über 70 Jahre alt ist und allein lebt, hat Anspruch auf diese App. Deren Einsatz hat zur Diskussion darüber geführt, ob der Begriff Org... einen Bedeutungswandel durchlaufen hätte und daher für jegliche Erfüllung zu benutzen wäre. Letztlich ist die Phantasmen-App nur ein unwürdiges Almosen für Menschen, die zuvor enteignet und durch das Verbot von Hauspersonal praktisch entmündigt wurden. Jane Campbells Seniorinnen zeigen sich rücksichtslos, manipulativ, aber auch als Opfer ihrer Anpassungsbereitschaft in jüngeren Jahren. Sie reflektieren den Widerspruch zwischen Einsamkeit und Alleinsein, befinden sich in Wiederholungschleifen vergangener Kränkungen und erleben verschiedenste Erfüllungen. Dass sie nicht unterschätzt werden sollten, zeigt die rund 80-jährige Martha, der bewusst ist, welche Bindungstheorie die Entwickler ihres Dienstleistungsroboters veranlasste, ihre Produkte in Gehäuse zu verbauen, die einem pummeligen Schneemann ähneln. In der Form sind Campbells Kurzgeschichten perfekt. Sie tragen die Handschrift einer lebenserfahrenen Autorin, die in mehreren Ländern gelebt hat und den eigenen Therapeuten-Berufsstand selbstironisch abbildet. Obwohl man beim Genuss von Kurzgeschichten ebenso maßhalten sollte wie mit Süßigkeiten und sie nicht auf einmal vertilgen, ist mir das mit Jane Campbells klugen Storys schwergefallen.

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