letterrausch
Schon mit „Bergland“, ihrem 2021 erschienen Romandebut, hatte mich Jarka Kubsova beeindruckt. Es ging um einen Hof in Südtirol, dem höchstgelegenen im Umkreis, auf dem starke Frauen lebten und wirtschafteten und nicht nur versuchten, sich gegen eine oftmals unbarmherzige Natur zu stemmen, sondern auch gegen gewaltätige, gleichgültige, vorurteilsbehaftete Männer. Über mehrere Generationen dehnte sich Kubsovas Porträt des Hofs und seiner Bewohner, wobei der Fokus immer auf den Frauen lag: ihren Kämpfen, ihren Ängsten, ihre Hoffnungen. Jetzt, zwei Jahre später, legt Kubsova mit „Marschlande“ ihren zweiten Roman vor und die Themen sind wieder ähnlich. Trotzdem entgeht sie mit Leichtigkeit der Falle, schlicht mehr vom selben zu präsentieren. Von Südtirol geht es jetzt ins Hamburger Vorland, in die titelgebenden Marschlande. Auch hier kämpf(t)en und behaupte(te)n sich Frauen. Kubsova beweist eindrücklich, dass diese Schicksale es wert sind, erzählt und gehört zu werden. Britta (verheiratet, zwei Kinder, sinnloser Halbtagsjob) und ihr Mann (erfolgreich, in irgendeiner ungenannten Firma in Leitungsfunktion) wollen von Hamburg aufs Land ziehen. Lange suchen sie vergeblich, doch dann wird es – auf Initiative ihres Mannes hin – das bei den Einheimischen als „Eispalast“ bekannte Haus: ein wärmepumpenbetriebener, seelenloser, bis in die letzte Ecke durchgestylter Neubau, der so gar nicht dem entspricht, was sich Britta erhofft vom Landleben hatte. Während ihr Mann sich nun an seinem schicken, vorzeigbaren Statussymbol erfreut, fällt es Britta schwer, überhaupt emotional in diesem neuen Leben anzukommen. Erst, als sie über die historisch verbürgte Albeke Bleken stolpert, die ganz in der Nähe einen Hof betrieb und schließlich im 16. Jahrhundert als Hexe verbrannt wurde, findet Britta einen Anknüpfungspunkt. Und so erzählt Kubsova auf zwei Zeitebenen sowohl von Brittas Leben als Ehefrau und Mutter als auch von Albeke, die einen florierenden Hof von ihrem Vater erbte, den sie jahrelang allein (und erfolgreich) führte, weil sie schlicht nicht heiraten mochte. Erst eine schwere Sturmflut wendet das Blatt: Der Deich, der an ihr Grundstück grenzt, bricht. Das Gesetz besagt, dass sie den Schaden zu beheben hat. Das Gesetz besagt allerdings auch, dass der Deichvogt ihr Hilfe angedeihen lassen muss (in der Regel in Form von Hilfsarbeitern). Dies unterlässt er. Albeke kann den Deich nicht reparieren. Sie verliert infolgedessen den Hof, die Menschen wenden sich gegen sie und schließlich wird sie als Hexe verbrannt. Es scheint Kubsovas Thema zu sein: Der Mensch, wie er sich gegen eine übermächtige Natur stellt und ihr sein Überleben abringt. Es geht um „den Kampf, den man mit dem Land führte und den man nicht immer gewann“ (78). Albekes Marschlande sind eine wilde, aber sehr fruchtbare Gegend. Mit dem Deich wurde der Elbe hervorragendes Ackerland abgetrotzt, doch der Deich kann brechen. Es gilt, Vorzeichen zu lesen, um hier erfolgreich zu sein und überleben zu können: Ist der Sturm schon vorbei? Wird eine Flut kommen? Ist der Winter vorbei und kann man aussäen? Als die Allerheiligenflut von 1570 ein Loch in den Deich reißt, ergießt sich das Wasser springflutartig in die Häuser. Es reißt alles mit, was nicht niet- und nagelfest ist: Gegenstände, Möbel, Tiere, selbst Kinder in ihren Krippen. Die Natur dringt hier ins Innerste des menschlichen Lebens vor – ins Heim, ins Zuhause. Wie anders stellt sich die Situation – zumindest vermeintlich – ein halbes Jahrtausend später dar. Brittas aaltglatter Neubau steht wie ein Fremdkörper in der Landschaft. Das Gebäude ist so durchgeplant und gedämmt, dass man im Inneren den Sturm gar nicht hört, der draußen tobt. Man sieht zwar, dass Äste sich biegen, doch dieses Schauspiel ist durch den fehlenden Sound wie losgelöst von der Realität. So ist das eben heute, die Natur ist gebändigt, geordnet, unterjocht. Zumindest bilden wir uns das gern ein. Und doch: Der Deich ist immer noch da. Und er kann immer noch brechen. Unterschwellig ist dieses Spannungsfeld stets präsent, Kubsovas Frage an den Leser ist: Meins du wirklich, dass die Natur keine Einfluss auf dein Leben mehr hat, nur weil du im zehnten Stock in der Großstadt lebst? Meinst du wirklich, dass du der Natur Vorschriften machen kannst? Sie wird sich aufbäumen, sie wird sich in dein Leben drängen. Denn du kannst nur mit ihr bestehen, nicht gegen sie. Kubsovas Stärke sind ganz eindeutig ihre Frauenfiguren. Albeke, die historisch verbürgte Marschländerin, ist der Star dieses Romans. Sie ist tough, resolut, unabhängig – und trotzdem nah- und für den Leser erfahrbar. Bei einer Frau sind das Eigenschaften, die nicht gut ankommen. Schon gar nicht 1570. Die Kämpfe, die Albeke auszustehen hat, werden in Kontrast zu Brittas Leben gesetzt. Klar, Britta läuft nicht Gefahr, auf dem Scheiterhaufen zu landen. Die Herausforderungen sind andere und doch zeigen sich auch hier wieder Abhängigkeiten von Situationen, Umständen (und Männern), die sich nicht so leicht aufbrechen lassen. Britta kommt beim Leser längst nicht so selbstbewusst an wie Albeke. Sie ist bequemer, hat im Leben bisher immer den leichteren Abzweig genommen. Kurzum: Sie hat sich eingerichtet und muss nun in der Mitte ihres Lebens erkennen, dass sie sich in eine Sackgasse manövriert hat. Doch auch sie stellt schließlich fest, dass ihr Kräfte innewohnen, die sie noch nie anzapfen musste. Jarka Kubsova ist auch mit ihrem zweiten Roman ein starkes Frauenporträt gelungen. Ihr Anliegen, unbekannte Frauen dem Vergessen zu entreißen, ist löblich, wichtig und pädagogisch. Vor allem aber resultiert es wieder einmal in einem unglaublich gelungenen Roman. Kubsovas eindrückliche literarische Stimme ist eine, die man sich auf keinen Fall entgehen lassen sollte!