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gwyn

Posted on 27.7.2023

Der Anfang: «Von meinem Schreibtisch, der am Fenster steht, sehe ich hinaus auf die weiten, kahlen Felder des Hochmoors, über das der eisige Dezemberwind weht. Der Himmel ist voll grauer, wütend zusammengeballter Wolken. Man sagt, wir bekommen Schnee über Weihnachten, aber wer weiß, ob das stimmt. Hier oben in Yorkshire weiß man nie, was kommt. Man lebt von der Hoffnung, dass alles besser wird, und manchmal wird diese Hoffnung auf eine harte Probe gestellt – besonders im Frühjahr, wenn der Winter sich nicht verabschieden will wie ein lästiger Besucher, der noch im Hausflur verharrt, statt endlich vor die Tür zu treten. Die hungrigen Schreie der Vögel gellen durch die Luft, und kalter Regen sprüht dem Wanderer ins Gesicht, wenn er, warm verpackt, über die schlammigen Wege geht und seine Erinnerung an Sonne und Wärme wie einen kostbaren Schatz in sich trägt.» Westhill House, ein einsames Farmhaus im Hochmoor Yorkshires, in dem das deutsche Ehepaar Barbara und Ralph Amberg die Weihnachts- und Silvestertage verbringen will. Völlig abgeschieden, mitten in der Natur wollen sie feststellen, ob ihre Ehe noch zu retten ist – und den 40. Geburtstag von Ralph feiern. Die Anfahrt durch ein einsetzendes Schneegestöber ist anstrengend und sie kaufen im örtlichen Laden nur das Wichtigste für das Abendessen und Frühstück ein. Und das, obwohl die Ladenbesitzerin rät, sich gleich für eine Woche zu versorgen, denn wie es aussieht, wird es viel Schnee geben und Westhill könnte für mehrere Tage eingeschneit sein – unerreichbar. «Ralph nickte Fernand kühl zu. Der erinnerte sich wieder an die Frau, deren Handgelenk er noch immer so fest umklammert hielt, dass seine Fingerknöchel weiß hervortraten. »Meine Frau Lilian«, stellte er vor. Lilian hatte die ganze Zeit unverwandt zu Boden gestarrt, nun blickte sie kurz auf. Barbara erstarrte, und sie hörte, wie auch Ralph hinter ihr scharf einatmete. Im trüben Licht der altersschwachen Deckenleuchte sahen sie jetzt beide, was ihnen im Moment der ersten flüchtigen Begrüßung nicht aufgefallen war: Lilians linkes Auge verunzierten die gerade erst langsam abklingenden Reste eines hässlichen, blaugrünen Blutergusses. Ihre Unterlippe war geschwollen, in einem Mundwinkel klebte ein wenig verkrustetes Blut. ‹Hat mich gefreut›, sagte Fernand Leigh. ‹Man sieht sich vielleicht noch!› Er nickte ihnen zu, dann strebte er, Lilian hinter sich herziehend, zur Kasse.» Genau das passiert. Barbara und Ralph hoffen, dass die Wege bald wieder frei sind, denn die staatliche Schneeräumung bedient lediglich die Hauptstraßen. Vom sehr abgelegenen Westhill aus kann man unmöglich bei diesen Schneebergen auch nur bis zum Nachbarn gelangen. Die nächste Farm gehört dem unangenehmen Fernand Leigh. Das Paar muss das wenige Essen rationieren, denn außer Tee hat die Vermieterin, die dort wohnt, keinen Krümel Keks, geschweige denn eine Dose Bohnen im Haus hinterlassen. Der Strom ist ausgefallen. Nun heißt es zunächst einmal Holz hacken und die Kerzen anzünden. Durch Zufall findet Barbara auf der Suche nach Brennmaterial für den Kamin im Schuppen an einem versteckten Platz einen handgeschriebenen Roman: Die frühere Besitzerin des Farmhauses, Frances Gray, erzählt dort ihre Lebensgeschichte, ihre Familiengeschichte. Eine junge Frau, die Anfang des 20. Jahrhunderts von den Suffragetten fasziniert ist, für Frauenrechte kämpft; ein Familiengeheimnis wird offengelegt, das während des zweiten Weltkriegs in diesem Haus stattgefunden hat. Rivalisierende Schwestern, eine konservative Landbevölkerung, Liebe, falsch geschlossene Ehen, verstoßene Kinder, Hass, Verrat und eine von unbändigem Freiheitswillen getriebene Francis, die dieses Haus liebte, alles dafür tat, es zu erhalten. Auch die heutige Besitzerin, die das Haus von ihr erbte, spielt eine Rolle. «‹Bin ich heute früh so verfroren›, fragte sie, ‹oder war es gestern Abend tatsächlich wärmer?› ‹Es war gestern Abend tatsächlich wärmer›, sagte Ralph bedrückt, ‹denn da funktionierte die Heizung noch.› Sie starrte ihn an. ‹Was?› Er nickte. ‹Ich war im Keller. Die Pumpe läuft ohne Strom nicht. Und ein Notstromaggregat gibt es nicht.› ‹Dann haben wir ja auch kein heißes Wasser! Wir können den Herd nicht in Gang setzen. Kein …› ‹Übrigens auch kein Telefon. Die Leitung ist tot.›» Der Hauptteil dieses Kriminalromans befasst sich mit der Geschichte von Francis. Es ist ein älterer Roman von Charlotte Link (1997), der jetzt als Taschenbuch und Hörbuch wieder auflebt. Einer der besten Romane der Autorin! Die Geschichte der Suffragetten ist beeindruckend! Ein Hoch auf ihren Mut, ihre Kraft und auf alles, was sie auf sich nahmen, um für die Frauenrechte, das Frauenwahlrecht zu kämpfen: Sie wurden übelst von der Polizei verprügelt bei ihren Demonstrationen, verhaftet, wochenlang ins Gefängnis gesperrt bei üblen Bedingungen – aber sie ließen sich nicht brechen, wurden gedemütigt, kämpften weiter, immer wieder von vorn. Francis und ihre Schwester Victoria sind grundverschieden. Als Francis den Heiratsantrag von John ablehnt, nach London geht, bei der Tante wohnt, sich für das Frauenwahlrecht einsetzt, wird sie vom Vater verstoßen. Eine junge Frau, die ihren Platz in der Welt noch finden muss. Als der Erste Weltkrieg einsetzt, fährt sie nach Europa, um in der Krankenpflege Soldaten beizustehen – was allerdings persönliche Gründe hat. Sie lernt die Grauen des Krieges kennen. Nach Beendigung des Krieges haben sich die Männer der Familie verändert, die Kriegserlebnisse stecken tief in ihren Seelen. Francis kann das verstehen. – Victoria weniger, denn für sie bedeutete Krieg: die Lebensmittel wurden knapper und man konnte nicht mehr alles kaufen, gesellschaftliche Feste gingen auf den Nullpunkt zu; das alles für sie eine Katastrophe. Die Mutter der beiden ist trotz ihres Alters unerwartet schwanger geworden. Als sie bei der Geburt ihres Kindes samt Baby verstirbt, darf Francis wieder auf Westhill leben. Der Vater ist gebrochen. Francis ist ein Organisationstalent und irgendjemand muss die große Farm am Laufen halten – die Pächter zusammenhalten. John und Francis, einst unzertrennbar, doch sie hatte seinen Heiratsantrag abgelehnt und er hatte eine andere genommen. Sie bereut es. Wir es noch einmal eine Chance geben? Zumindest eine jahrelange heimliche Liebschaft. Die Leighs und die Grays – zwei Familien befreundet und wieder auch nicht. Alles ist vertrackt. Die Zeit vergeht, der Zweite Weltkrieg beginnt, und plötzlich steht er sozusagen mitten im Haus … «‹Sie ist ein bisschen verrückt, aber ein lieber Kerl!› ‹Verrückt?› fragte Barbara. ‹Na ja. Eine alte Jungfer. Ein bisschen verschroben, manchmal etwas hysterisch. Seit ihrem dreizehnten oder vierzehnten Lebensjahr kennt sie nur Westhill und Leigh’s Dale, wenn man von den gelegentlichen Reisen zu ihrer Schwester nach Kent absieht. Und da sitzen die beiden dann auch nur in der Wohnung, und Marjorie nörgelt vor sich hin. So ist Laura vielleicht ein wenig wunderlich geworden.› Zwischendurch geht es hin und wieder zurück zu Barbara und Ralph, denen das Essen ausgeht – aber nicht die Eheprobleme. Als die Telefonleitung wieder funktioniert, ruft die Hausbesitzerin Laura ständig an. Sie scheint beunruhigt, und das mag nicht an den Schneemengen liegen. Wovor hat sie Angst?, fragt sich Barbara. Charlotte Link geht tief in sämtliche Charaktere hinein und entwickelt ein bewegendes Drama. Zum Schluss geht es zurück in die Anfangsgeschichte, die sich dramatisch ausbaut. Denn Francis Memoiren legen so einiges auf den Tisch, was ein paar Leute gern unter den Teppich kehren wollen. Der Thrill, der die gesamte Zeit dem Roman unterliegt, platzt heraus. Trotz der vielen Seiten ein spannender Kriminalroman, zwei Geschichten, die sich am Ende vereinen. Tiefgründig, vielschichtig, historisch die gesellschaftliche Schicht prima dargestellt; Freundschaft über Grenzen hinaus, Feindschaft bis mitten ins Familienherz. Empfehlung für den Thriller! Charlotte Link, geboren in Frankfurt am Main, ist die erfolgreichste deutsche Autorin der Gegenwart. Ihre Kriminalromane sind internationale Bestseller und erobern auf Anhieb die SPIEGEL-Bestsellerliste. Allein in Deutschland wurden bislang über 32 Millionen Bücher von Charlotte Link verkauft; ihre Romane sind in zahlreiche Sprachen übersetzt. Charlotte Link lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Frankfurt am Main.

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