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Hunger auf Leben Der Aufbau-Verlag hat 2023 wieder einen Blick auf Brigitte Reimann geworfen und hat einige ihrer Bücher in sehr schön gestalteten Exemplaren herausgebracht. Es handelt sich um „Ankunft im Alltag“, „Franziska Linkerhand“, „Die Geschwister“ und eben dieses Buch hier „Ich bedaure nichts“. Die 1973 mit nur 39 Jahren verstorbene Brigitte Reimann war eine der bedeutenden Schriftstellerinnen der DDR, von der ich aber bisher leider noch nichts gelesen hatte. Mit diesem Buch hat sich das nun geändert und ich bin begeistert. Hier in diesem neuen „Ich bedaure nichts“ sind die Tagebucheintragungen von 1955 bis 1970 zusammengefasst und damit die ehemaligen Bücher „Ich bedaure nichts (Tagebücher 1955 bis 1963)“ von 1997 und „Alles schmeckt nach Abschied (Tagebücher 1964 bis 1970)“ von 1998 miteinander vereint. Und dieses „Ich bedaure nichts“ ist ungemein eindringlich. Man glaubt bei der Lektüre mit einer Frau von heute zu sprechen, von dieser Frau zu lesen. Denn das Geschriebene passt für mich definitiv nicht in den Mief der 50er und 60er. Brigitte Reimann ist definitiv ihrer Zeit voraus und man kann förmlich erahnen, wie sie bei ihren gedanklich gestrigen Mitmenschen angekommen sein muss. Für diese Denke, für dieses Agieren bekommt sie natürlich meinen tiefsten Respekt und ich ergehe mich in inneren Ovationen. Denn auch ihre Schreibe in ihren Tagebüchern, ihre politischen Sichten, die sie da ausspricht, aufschreibt, erstaunen mich zutiefst. Denn es ist sehr mutig, fast schon dumm, so ehrlich zu schreiben. Was hat sie von den Tätigkeiten der Stasi gedacht? Erst ist sie politisch vollkommen überzeugt, sehr rot in ihrem Denken, gefährdet aber auch schon da durch ihre Denke, durch ihre Sicht sich selbst und andere, auch in ihren Romanen ist dies ersichtlich (Ankunft im Alltag). Die Stasi wird sich sicher ins Fäustchen gelacht haben, nicht von ungefähr erfolgten sicher die Anwerbeversuche. Und durch diesen Kontakt wird die Reimann sicher dazu gelernt haben. Ihren gedanklichen Wandel läutet aber das Geschehen in Prag ein und auch hier zeigt sie richtigen Mut in ihrem Verhalten. Von daher zeigen die Tagebücher einen Reifeprozess, einen richtig interessanten Reifeprozess, vor allem wenn man noch einen größeren Teil der auftretenden Personen kennt und auch so noch einmal tiefere Einblicke in die herrschende Politik bekommt. Aber auch persönlich zeigt die Reimann intensive und auch beklemmende Einblicke in ihre Gefühlswelt, in ihr intensiv und eindringlich geführtes Leben, in ihren Hunger auf Leben, wie 2004 ein Buchtitel ihrer Tagebücher von 1955 bis 1970 ertönt und auch der dazugehörige Film mit Martina Gedeck in der Hauptrolle erklingt. Einen Hunger auf Leben, der in ihrem Ende einen dunklen Beigeschmack bekommt. Ein viel zu frühes Ende! Was hätte diese Frau wohl zu 1989 gesagt und zu den dann folgenden Geschehen? 1989 wäre sie 56 Jahre alt geworden, hätte sicher noch einen wachen Blick gehabt, hätte das Geschichtliche sicher richtig interessant kommentiert. Und was für Bücher, was für Romane hätte sie der Leserschaft noch hinterlassen können? Aber so ist das Leben. Es ist endlich und niemand weiß, wann das Ende für einen Selbst kommt. Und das ist auch ganz gut so, wie ich finde. Die Lektüre dieses nicht ganz so dünnen Buches war definitiv eine interessante Erfahrung für mich und es wird sicher nicht das letzte Buch aus der Schreibmaschine der Brigitte Reimann gewesen sein, welches einen Platz vor meinen Augen findet. Denn „Ich bedaure nichts“ hat mich neugierig gemacht, sehr neugierig.