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letterrausch

Posted on 29.6.2023

Sehr gespannt war ich auf „Das Jahr der Wunder“ von Louise Erdrich – und zwar aus zwei Gründen: Erstens habe ich bisher nichts von der amerikanischen Autorin gelesen, die 2021 für „Der Nachtwächter“ den Pulitzer Prize erhalten hat. Ich bin immer neugierig auf mir bisher unbekannte Stimmen, im Fall von Erdrich kommt ihr kulturelles Erbe hinzu, das ich literarisch selbst noch nie belesen habe (Schande über mich) – ihre Mutter war halb Französin, halb Ojibwe. Und zweitens war „Das Jahr der Wunder“ letztes Jahr für den Women’s Prize for Fiction nominiert und mittlerweile habe ich fast alle Romane der Shortlist gelesen. Die deutsche wie die amerikanische Fassung des Romans werden ungefähr so angepriesen: Protagonistin Tookie arbeitet in einer Buchhandlung in Minneapolis, in der eine plötzlich verstorbene Stammkundin als Geist umgeht. Wie wird man diesen Geist nun wieder los? Diese Inhaltsangabe greift allerdings deutlich zu kurz. Erdrich, die selbst einen Buchladen in Minneapolis betreibt und im Roman als Nebenfigur auftaucht, wollte offenbar einen zeitgeschichtlichen Roman schreiben, der die letzten Jahre mit all ihren Verwerfungen widerspiegelt – und zwar aus einer indigenen Perspektive. Die Geistergeschichte ist schlicht eines von vielen Puzzleteilen, die sich in diesem Roman nur mit Mühe zu einem Ganzen fügen. Denn es geht außerdem um: das amerikanische Justizsystem, Corona, George Floyd und die daraufhin aufbrandenden Demonstrationen und Ausschreitungen, Patchworkfamilien, schwere Kindheiten, dumme Entscheidungen und die Liebe zur Literatur, die in jeder Situation Halt geben kann. Das Problem dabei war für mich: Mal abgesehen von der Geistergeschichte beschreibt „Das Jahr der Wunder“ nachprüfbare Ereignisse. Aber auch wenn Dinge im Leben so passieren (Stichwort „when it rains, it pours“) – erst Covid, dann ein Polizeimord, dann noch ein Baby –, so mutet man einem lesenden Publikum ziemlich viel zu, wenn man das alles in ein und denselben Roman packt. Und da man weder die Pandemie, noch die Ereignisse um George Floyd oder BLM oder gar die eigentliche Geistergeschichte in den knapp 500 Seiten, die das Buch umfasst, erschöpfend literarisch aufarbeiten kann, wirkt „Das Jahr der Wunder“ ziemlich hingestückelt und steigt letztlich nie in die politischen, historischen und selbst indigenen Konnotationen ein, die es eigentlich bearbeiten will. Das bedeutet konkret, dass man hier über amerikanische Polizeigewalt und das erste Coronajahr nichts erfährt, was man nicht schon in zigfacher journalistischer Ausführung woanders gelesen hätte. Außer rechtschaffener Empörung über den Floyd-Mord trägt Erdrich nichts bei. Und ob man von einer Familie lesen will, die so sehr auf die Pandemie-Hysterie einsteigt, dass sie sogar im eigenen Haus Masken trägt, muss jeder selbst entscheiden. Dazu kommt, dass diese politische Stoßrichtung nach der Hälfte der Lektüre losstartet und der Roman damit eine 90-Grad-Kurve nimmt, auf die man in der Form eventuell nicht vorbereitet war – vor allem, wenn man sich auf den Klappentext verlassen hatte. Bis dahin ging es eben um Tookie, die im Knast gesessen und dort ihre Liebe zur Literatur entdeckt hat. Nachdem sie vorzeitig entlassen wird, wird sie von dem Polizist geehelicht, der sie damals verhaftet hat. Sie arbeitet in einer Buchhandlung, die sich thematisch mit indigenen Themen auseinandersetzt und immer an der Pleite kratzt. Diese Buchhandlung wird vom Geist einer Kundin heimgesucht, die sich jahrelang ein indianisches Erbe herbeifantasiert hat und damit bei den echten Indianern höchstens wohlgelitten war. Dazwischen gibt es immer wieder Referenzen zu bestimmten Büchern, zu Romanen, die verkauft werden und auf dieser Ebene funktioniert der Roman wunderbar. Wann immer Erdrich über Literatur schreibt, entwickelt „Das Jahr der Wunder“ einen Sog, ein warmes Wonnegefühl. Sie tut es eben nur leider viel zu selten. Immerhin: am Ende des Buchs befindet sich eine umfangreiche Liste mit Empfehlungen zu verschiedenen Themen, die im Roman diskutiert werden (z.B. „perfekte kurze Romane“ oder „Bücher über verbotene Liebe“). Wenn man schon während der Lektüre festgestellt hat, dass Erdrich einen Geschmack hat, der mit dem eigenen d’accord geht, dann hat man hier einen echten Schatz an der Hand – bei mir war das jedenfalls so. Wenn man dann auch noch des Englischen mächtig ist, umso mehr. Denn das von der Liste „indigene Lyrik“ relativ wenig auf deutsch verfügbar ist, überrascht vermutlich niemanden. „Das Jahr der Wunder“ hätte eine Ode ans Lesen und an die lebensrettenden Eigenschaften von Literatur werden können. Und sollen. Mit diesem Fokus wäre es – zumindest meiner Ansicht nach – das bessere Buch geworden. Stattdessen wollte Erdrich offenbar alles unterbringen, was sie in den letzten Jahren umgetrieben hat. Das ist zu viel Ambition, der zu wenig Willen gegenübersteht, in diese Themen wirklich tief einzusteigen. Der große Wurf ist es damit nicht geworden.

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