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gwyn

Posted on 27.6.2023

«Warum sollte eine Geschichte der Massentierhaltung im 19. Jahrhundert beginnen? Weder 1850 noch zur Zeit der Gründung des Deutschen Kaiserreichs 1871 oder um 1900 gab es Ställe, in denen einzelne Menschen hunderte gleicher Tiere betreuten. Die Orte, an denen die meisten Rinder, Schweine und Hühner gezüchtet, gemästet und geschlachtet wurden, waren identisch oder lagen nah beieinander. Die Spezialisierung der Schweinehaltung in die Bereiche Haltung von ‹Mutterschweine›, Läuferhaltung und Schweinemast nahm um 1880 «in den kultivierten Wirtschaften unsrer Gegenden» zu, doch die Tiere kamen weiterhin an die frische Luft und suchten sich vor allem in herbstlichen Wäldern einen Teil ihres Futters selbst. Ochsen blieben mindestens so sehr Zugvieh wie Fleischlieferanten; die Unterscheidung in ‹Pferde-, Ochsen- oder Kuhbauer› zeigte überdies die Bedeutung der Tiere für die soziale Position ihrer Besitzer.» Kompetent und mit erzählerischem Schwung führt uns die Historikerin Veronika Settele durch Deutschlands Ställe seit dem 19. Jahrhundert und zeigt, wie sich unser Umgang mit Tier und Fleisch nicht erst seit gestern verändert hat. Wann beginnt die Massentierhaltung? Wenn der Ertrag der eigenen Ernte nicht zur Ernährung des eigenen Viehbestands ausreicht? Veronika Setteles beschreibt akribisch genau und sachlich die Geschichte der Massentierhaltung. Sie zeigt die Stationen auf einem langen Weg, der von der Mitte des 19. Jahrhunderts, als die Straßen Berlins, Londons und Manhattans noch mit Schweinen bevölkert waren, bis in unsere Gegenwart, in der ein exorbitanter Fleischkonsum und «intensive» Tierhaltung ebenso existieren wie die immer lauter werdende Kritik daran. Die Kritik am Wohlergehen der Tiere nahm 1990 Fahrt auf: «Im Verhältnis zwischen Stall und Gesellschaft verschob sich in den letzten 30 Jahren mehr als in den 150 Jahren davor». Eine Gegenbewegung entwickelte sich ganz langsam. «Speziell am Broadway in New York City waren die Tiere überall. Zwei korpulente Sauen trotteten hinter seiner [Dickens] Kutsche her, während ein halbes Dutzend ausgewachsener Eber um die Ecke bog und ein einsames Schwein heimwärts bummelte. In wahrlich republikanischer Manier mischten sich die Schweine unter die beste Gesellschaft, notierte Dickens humoristisch. Sie verbrachten den Tag, wo es ihnen gefiel, und gingen bei Einbruch der Dämmerung nach Hause.» Äußerst bildlich beschreibt die Autorin das Straßenbild der damaligen Metropolen. Die Bereiche der Sixth und Seventh Avenue nannte man in New York «Hogtown», «Pigtown» oder «Stinktown». Die armen Bürger der Stadt hielten sich ein Schweinchen, ihre die Lebensversicherung, denn von dem Verkauf konnten sie lebensnotwendige Produkte erwerben und ein Teil verblieb zum Eigenbedarf. Die Tiere wurden in kleinen Verschlägen gehalten, manchmal nur ein paar großen Steine zur Eingrenzung, andere nahmen sie mit ins Wohnzimmer in der Nacht. Tagsüber trotten die Schweine in den Gassen herum, ernährten sich nahezu gänzlich autark von den Abfällen auf der Straße, gingen am Abend brav nach Hause. Allerdings sahen die Gassen nicht sehr appetitlich aus: Exkremente von Schweinen, Rindern (die in Stallungen mitten in der Stadt lebten), Pferden zeigten kein schönes Stadtbild. Schweine «wühlten mit ihren Rüsseln das Kopfsteinpflaster auf und machten die Straßen unpassierbar für Wagen und Karren.» In einem Buch habe ich mal gelesen, dass die Müllabfuhr von NY zu dieser Zeit in der Hauptsache tote Tiere entsorgte, die durch Unfälle oder Altersschwäche gestorben waren und eben Tierexkremente. In den 1850er Jahren begann man, die Tiere aus dem Stadtbild zu entfernen. «1859 waren sie aus Midtown Manhattan verschwunden, was die Grundstückspreise in der Upper East Side steigen ließ.» Man ging rigide gegen versteckte Tiere vor, 9000 Schweine habe man beschlagnahmt, meldete die Polizei nach Hausdurchsuchungen. Die Schweinerei hatte sich dann nach Brooklyns verlegt. Zunächst … Aber in anderen Metropolen wie Berlin und London war es nicht besser – es gab vergleichbare Stadtbilder. In Berlin hatte man zwei «Wursthöfe» und ein paar kleine private Schlachtereien, die an Viehmärkte angeschlossen waren -oder man schlachtete das Schweinchen direkt auf der Straße – beides unter sehr schlechten hygienischen Bedingungen. 1868 erließ die preußische Regierung aufgrund der Missstände im Schlachtgewerbe und der Verbreitung der Trichinose das Gesetz über die «Errichtung öffentlicher, ausschließlich zu benutzender Schlachthäuser», das im Volksmund «Schlachtzwanggesetz» genannt wurde. Rudolf Virchow schlug den Bau eines städtischen Vieh- und Schlachthofs vor mit Kontrolle der Tiere der Hygiene. In den 1890er-Jahren gab es etwa 5000 Kühe in Berlin. Der Fleischkonsum stieg stetig. Das Volk glaubte, es habe ein Gewohnheitsrecht auf Fleisch. «Mit der Botschaft ‹Billiges Brot und billiges Fleisch› erhielt die SPD bei den Reichstagswahlen 1912 einen höheren Stimmenanteil, als zuvor». Ein Dilemma, denn die Fleischpreise stiegen um knapp 35 Prozent und «unser täglich Fleisch» war in den meisten Familien nicht mehr leistbar. «Der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann warf der Regierung vor, ihrer Verantwortung gegenüber dem Volk nicht nachzukommen», und man stellte in Frage, ob die «Arbeiter ihre Arbeit ‹überhaupt leisten können›». Hier ist herrlich beschrieben, wie die Frauen 1912 die Stände der Fleischer in der Markthalle stürmten, die Metzger attackierten – oder das Anstehen an den Freimarktständen. Ebenfalls berichtet die Autorin über die Gesetze 1915 für Restaurants: an welchen Tagen sie Fleischgerichte verkaufen dürfen, wann sie kein Fett zum Braten verwenden dürfen … Von 1861 bis 1911 verdoppelte sich der durchschnittliche Schweinefleischkonsum von 20 auf 40 Kilogramm. Doch die Armen Leute konnten sich selten ein Stück gönnen. Fleisch, ein Statussymbol, stand für Wohlstand! Im Ersten Weltkrieg erhielten die Soldaten durch die Zwangsbewirtschaftungsgesetze der Regierung mehr Fleisch als je zuvor in ihrem Leben. Das führte zum Hunger der Bevölkerung, weil die Pflanzen fehlten. Eine üble Fehlentscheidung. «In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts veränderte sich nicht nur, wie Rinder, Hühner und Schweine gehalten wurden. Ebenso begann sich die Art und Weise, wie wir als Gesellschaft darauf blicken, zu wandeln.» Letztendlich wiederholte das sich unter Hitlers Regierung: «Leistungstiere und nicht leistungsunfähige Fresser» zu züchten, das Fleisch galt als Kraftfutter für das Volk – und diese Politik war verantwortlich für Hungerwinter der 1940er Jahre; es fehlte an pfanzlicher Nahrung. Nach dem Zweiten Weltkrieg blieb Fleisch zunächst ein Luxusprodukt, doch die Landwirtschaft erfuhr durch Fortschritt eine biologische Steuerung, Kostenrechnung und Technik flossen ein. Der Westen und der Osten teilten sich. Die USA und Großbritannien halfen nicht nur beim Wiederaufbau im Westen, «Feeding the German civilian populatin» benannte man zur wichtigsten Aufgabe. In Bremerhaven liefen alle 4-6 Wochen Schiffe mit «Geschenkkühen» ein, die von privaten, meist religiösen Gruppen, in den USA gespendet wurden – knapp 4.000 Rinder. In der DDR lief nicht alles rund. Die Auflösung der Höfe und die Bildung der LPG’s und die vielen unsinnigen Vorschriften zu Stallgröße usw. führten zu kranken Tieren und anderen Problemen. 1960 «verspeisten die Kühe mehr Futter, als sie über den Verkauf ihrer Milch wieder hereinspielten». Aber: In den 1980er-Jahren hingegen wurde im Osten mehr Fleisch pro Kopf verzehrt als im Westen. Es gibt ab dieser Zeit im Buch stets historische Vergleiche zwischen West und Ost. Tiefgefrorenes Sperma und Melkmaschinen veränderten die Ställe. Interessant zu lesen, welche Probleme es mit der «Melkbarkeit» gab – mit den individuellen Eutern der Kühe, deren Zitzen zu lang, zu kurz, zu ungeordnet usw. waren. So wurden die Kühe melkmaschinengerecht gezüchtet. Aber auch die Maschinen verbesserten sich. Die Kuh wurde nicht mehr vom Bullen des Hofnachbarn besprungen, sonder besamt vom Sperma besonders geeigneter Tiere. Kraftfutter, Technik, Zeiteinsatz – Wirtschaftlichkeit war jetzt das Ziel: Unter geringstmöglichem Aufwand möglichst viel Ertrag zu erhalten. Neue Stalltechniken erlaubten den Landwirten so viele Tiere wie noch nie zu versorgen. Man hatte ja auch Probleme, Arbeitskräfte zu bekommen. Wie viel Arbeitszeit setzt man in ein Küken bis zum Abverkauf, wenn es nicht mehr in einer Hühner-WG aufgezogen wird, sondern in einem riesigen Stall, bzw. in Käfighaltung? Genaue Berechnungen haben den Landwirt im Griff. Schweine, Hühner und Kühe, die nie mehr die Sonne und den Mond sehen können … Fleisch- und Milchprodukte sind Billigware geworden. In den 1990er Jahren entwickelt sich erstmals Kritik an der Tierhaltung – man stellt das Tierwohl in Frage. Viele Tiere auf wenig Platz führte zu Verletzungen. Den Hühnern werden Schnäbel gekürzt, den Schweinen die Schwänze. Das Schnäbelkürzen ist seit 2017 verboten, das millionenfache Töten männlicher Eintagsküken seit 2022. Das Kupieren der Schweineschwänze ist zwar verboten, doch es gibt viele Ausnahmeregelungen, die das Gesetz aushebeln. Immer weiter steht das Tierwohl einerseits im Focus, auf der anderen Seite werden Stallungen größer, es läuft weiter wie bisher. Ökologische Landwirtschaft ist noch ein Randsektor. «Massentierhaltung wurde zum unappetitlichen Bürgerschreck, während in weiterhin weniger, aber größer werdenden Ställen davon unbeeindruckt mehr Tiere schneller Milch, Eier und Fleisch liefern.» Sind die landwirtschaftlichen Betriebe die Gewinner der betriebswirtschaftlichen Strategie? Eben nicht. Supermarktketten drücken die Preise, die großen landwirtschaftlichen Maschinen, Computeranlagen im optimierten Stall, drückende Kredite für das alles, regelmäßige Messungen – und Formulare, Formulare – lässt die meisten Landwirte am wirtschaftlichen Minimum existieren. Letztendlich hatten die Großeltern und Urgroßeltern mit ihren kleinen Höfen im Vergleich wohl mehr in der Tasche. Dazu kommt der Anerkennungsverlust in der Bevölkerung. Neue Entwicklungen gehen heute zum Futuremeat – aus dem Reagenzglas – oder zu veganen Produkten. In der Nähe von Tel Aviv gibt es eine Fleischfabrik, die täglich eine halbe Tonne Fleisch aus Zellkulturen herstellt, und sie bemühen sich um den Vertrieb. Singapur ließ als erstes Land Hühnerfleisch aus Zellkultur zu. Der Fleischkonsum geht weltweit zurück, da immer mehr Menschen auf Fleisch verzichten, weniger davon essen, sich vegetarisch oder vegan ernähren. Wie sieht die Zukunft aus? Veronika Settele hat in die Vergangenheit geschaut und akribisch die Massentierhaltung dokumentiert. Sehr interessant und spannend inhaltlich und vom erzählerischen Stil gut zu lesen. Sie ist Historikerin und dokumentiert sachlich, ohne zu bewerten. Fotografien unterstreichen den Text. Genau das macht dieses Sachbuch sehr lesenswert – meine Empfehlung!. Veronika Settele ist Historikerin an der Universität Bremen. Ihr Buch «Revolution im Stall» wurde mit dem Förderpreis Opus Primum der Volkswagen Stiftung für die beste wissenschaftliche Nachwuchspublikation 2020 ausgezeichnet. Ihr Buch «Revolution im Stall» wurde mit dem Förderpreis Opus Primum der Volkswagen Stiftung für die beste wissenschaftliche Nachwuchspublikation 2020 ausgezeichnet.

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