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gwyn

Posted on 27.6.2023

«Der Wind teilt sich in den Bäumen. Er verliert sich darin, zerrinnt zu Musik, wird zur Brise.» Ein Klassiker der französischen Literatur, erstmals 1930 erschienen, in großartiger Neuübersetzung. Ein malerisches Dorf im Tal der Haute Provence; der unerbittliche Mistral macht den Menschen das Leben schwer. Marie lebt glücklich auf einem Bauernhof in den Bergen im Kreise ihrer Familie. Eines Tages kreuzt ihr Weg den von Olivier. Marie ist verliebt – sie küssen sich; und sie macht sich Hoffnung, schreibt ihm einen Liebesbrief. Dann hört sie, er heiratet eine andere, eine schöne, junge Frau, ein Einzelkind, dass später ein großes Erbe antreten wird; die Tochter eines Großgrundbesitzers. Marie verfällt in Depressivität, ist an ihrer Liebe verzweifelt. Gleichzeitig beschreibt Maria Borrély die wilde Schönheit der Haute Provence in allen sinnlichen Facetten – Nature Writing. Der Mistral singt, heult, peitscht und macht das Leben an manchen Tagen unerträglich, fordernd den Menschen viel ab. «Wie Stöße mit dem Hobel, meint man, hastig, wütend, ein Starrsinn, die Erde bis auf die Knochen abraspeln zu wollen.» Atmosphärisch dicht beschreibt die Autorin die Natur, wobei sie sich genauso empathisch in ihre Protagonistin einfühlt. Lavendel- und Thymianfelder, Schnecken, Wurzeln der Alraune, Olivenhaine und Ölmühlen, Wälder, bergige Landschaft mit Flüssen und Schluchten. Und ewig fegt der Mistral im Lauf der Jahreszeiten über das Land, zerzaust Haare und Bäume, «zerrinnt zu Musik» in «Rohr- und Flötenklänge», bläst die Krume vom Ackerboden, rüttelt an Türen, faucht durch den Kamin, und er hinterlässt ödes Land. Maries Vater, Costant, bestellt die Felder («Auf den Tennen ein Konzert brummender Maschinen»), Norine, seine Frau, kümmert sich um Haushalt, Tiere und um die sechs Kinder. Marie ist die Älteste, ist der Mutter eine Hilfe. Fein beschrieben die karge Olivenernte, die Mutter und Tochter einfahren. Das Land gibt nicht mehr viel her. Die Häuser auf dem Hügel, einst der Stolz in diesem Dorf, sind verlassen, das Land vom Mistral zerstört, kahl und ausgetrocknet die Anwesen nur noch Ruinen. Die Erbarmungslosigkeit der Natur auf den Punkt gebracht: sengende Hitze im Sommer («Der Südwind bläst seit zwei Tagen, heiß wie aus einem Backofen, und hat das Korn zu schnell reifen lassen.»), beißende Winde und Kälte im Winter, die Schönheit der blühenden Bäume und Felder, die harte Arbeit bei der Aussaat und der Einfuhr der Ernte. «Rund um das vor Licht, trunkenen Zikaden und sonnenverbrannten Ähren sirrende Plateau bilden die Hügel einen Ring aus blauer Frische. Auf der Montagne de Lure ist ein Hauch Schnee zu erahnen. Und der Lavendel, zwischen zwei Weizenfeldern, erscheint wie der violette Grund einer Schlucht am Morgen. Ob Marie an ihrer Liebe zerbricht, oder ob sie sich fangen wird, bleibt am Ende offen. Ein kunstvoller Text voll Musik, Farben und Gerüche; beim Eintauchen reißt der Wind den Lesern an den Haaren, ihm fröstelt, ihm wird heiß, «das uralte Pflaster mit seinen glänzenden abgewetzten Steinen, die die Fußsohlen verbrennen, nackt», nimmt den Duft der Lavendelfelder und Wälder auf, rümpft die Nase an der Ölmühle, lauscht dem Jaulen des Mistrals. Berührend sinnliche Metaphern durchziehen den Roman, das ist große Kunst. Selten gibt es einen kleinen kitschigen Ausrutscher, meist wenn es um die Liebe geht. Das kann man verzeihen. «Schöner Morgen. Die Ferne ertrinkt im Himmel. Er rinnt in die Senken, überschwemmt die kahlen Felsschluchten. Rändern gleich, umfassen die Hügel die azurblauen Wogen. Der blaue Dunst lässt die Klippen weniger schroff, das Laub dichter erscheinen, erfrischt das ausgedorrte Land, verbirgt und benetzt die hässlichen Ruinen der Nordhänge, die Furchen abgerutschter Erde, wie die Falten auf dem Körper einer alten Frau.» Wir bekommen gleichzeitig einen Einblick in das damalige Dorfleben, die Tagesabläufe, ein Sittenbild dieser Zeit. Erstaunlich ist der Blick des 80-jähriger Onkels auf die Welt. «Man hat die Erde kaputtgemacht, das Klima verändert. Es regnet immer weniger. Die Quellen versiegen.» Er besitz keine Tiere, jagt kein Wild, schon gar nicht isst er Fleisch; das hält er für brutal und widerlich, sie hätten ein Recht auf ein freies, unbeschadetes Leben. Er sieht den Niedergang der Natur, spürt die Veränderung des Klimas, sagt, der Mensch mache die Erde kaputt gemacht und sei damit Schuld an der Veränderung des Klimas. Wohlgemerkt, der Roman ist von 1930! Dorfleben, mit allen Facetten, auch der geistig zurückgebliebene Schäfer ist ein Teil davon, der angeblich als Kind einen Sonnenstich bekam, der nicht ohne Folgen für seinen Kopf blieb. Eine schmale, dafür kraftvolle Novelle, der für Freunde des Nature Writings und für Provence-Fans sicher ein Leckerbissen ist. «Er war lange Zeit Hirte. Man munkelte damals hinter vorgehaltener Hand, er stille seine Lust bei den Schafen. So erhielt er den Beinamen Bäh.» Maria Borrély wurde 1890 in Marseille geboren und lebte ein Leben voller Kämpfe. Mistral, der erste von insgesamt vier Romanen, die innerhalb weniger Jahre entstanden, wurde 1930 auf Empfehlung von André Gide bei Gallimard veröffentlicht. Maria Borrélys Wunsch, selbst zu schreiben, entstand in der Künstler-Gruppe, der sie neben Jean Giono, dem Maler Bernard Thévenet, Gabriel Péri, Édouard Peisson und Paul Maurel angehörte.

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