Profilbild von gwyn

gwyn

Posted on 30.5.2023

«Hanife ist mein Name. Ich bin die Tochter der Nomadin Ayşe. Sie kam aus Griechenland, als viele Menschen auf einmal das Land verlassen sollten. Zusammen mit vielen anderen Frauen wurde sie auf einem Pferdekarren auf den Marktplatz des Dorfes gefahren. Es gibt in unserem Glauben eine Regel, die den Männerschwänzen dient: Ein obdachloses Weib zu behüten, ist die Pflicht eines jeden Mannes. Die ersten Männer dieser Frauen waren im Krieg gefallen. Jetzt warteten hier die nächsten auf sie, mit ihren steifen Werkzeugen. Bekamen die Möglichkeit, das Gewissen ihrer Schwänze zu beruhigen. Ömer Bey nahm meine Mutter auf. In der ersten Nacht bespritzte er sie mit seinem Samen. … Ich war noch ein kleines Mädchen, da brachte Ömer Bey drei weitere Frauen in die Hütte. Meine Mutter hatte keinen Namen, sie war die Nomadin. Nomadin, koche die Wäsche … Nomadin, trage das Heu in den Stall … Nomadin, rupfe das Huhn … Nomadin, zieh die Hose runter … » Eine türkische Familiengeschichte, die mit der Urgroßmutter und der Großmutter einleitend beginnt. Die nächste Generation wandert nach Deutschland aus – das gelobte Land, wo Milch und Honig fließt. Der Traum, den viele «Gastarbeiter» träumten: Arbeiten, viel Geld verdienen, nach Hause zurückkehren und ein Haus bauen. Und dann wurden aus den Gästen Einwohner. In Deutschland die Türken – in der Türkei die Deutschen – entwurzelt, nirgendwo wirklich zu Hause. Eine Familie, die sich bemüht hat, sich zu integrieren. Ein Zwiegespräch zwischen Sohn und Mutter – zwei völlig verschiedene Generationen, aber auch eine Abrechnung mit dem Heimatland und dem Machismo, mit der Erniedrigung der Frauen. «Ich werde in der Sippe fast zu einem staatlich geprüften Dolmetscher erklärt. Egal, wer beim Arzt, beim Rechtsanwalt, bei der Bank einen Termin hat, ich werde wie eine Aldi-Tüte mitgeschleppt. Besonders die Frauen in der Verwandtschaft geben keine Ruhe, mindestens zwei Arztbesuche gehören zum Wochenplan.» Die Mutter, Fatma, ein Arbeitstier, die sich für den Sohn eine bessere Zukunft wünscht. Eine Ausbildung als Handwerker, der sein gutes Geld verdient, der es besser macht, als der Vater, ein Taugenichts, der ständig etwas Neues anfängt und scheitert. Dessen Kneipe nach seinem Tod nur Schulden hinterlässt, die Fatma abzuzahlen hat. Sie hat sich in der Schuhfabrik, krankgeschuftet, nach oder vor der Arbeit und am Wochenende für den Bauern zusätzlich als Erntehelferin gearbeitet: Spargelstechen, Erdbeer- und Gurkenernte. Trotz allem kommt der Vater in seiner Naivität als sympathischer Träumer herüber. Der Sohn arbeitet bereits als Kind mit auf dem Feld, will seinen Anteil am Familieneinkommen geben, gehorsam macht er später eine Ausbildung als Werkzeugmacher. Doch er lebt seinen Traum, steigt aus und wird Dichter. «Du hattest deine Prinzipien … Vielleicht deshalb werde ich für dich immer auch eine Enttäuschung sein. … Je stärker du einen selbstsicheren Mann in mir sehen wolltest, desto mehr habe ich alles Maskuline abgelegt. So blieb ich in deinen Augen ein wenig halb, ein wenig machtlos, ein kleiner Versager!» Die Mutter befürchtet nämlich, das sich mit dem Interesse für Sprache und Theater die Gene des nichtsnutzigen Vaters nach vorn schieben würden. «Der Nussknacker von Aldi ist sehr beliebt in der Sippe, sehnsüchtig warten sie jeden Sommer auf dieses Geschenk, damit allein geben sie sich aber nicht zufrieden. Vieles, was sie im Fernsehen sehen, wollen sie von uns haben: Wasserkocher, Mikrowelle, Schnellkochtopf … Sachen, die ich selbst nicht besitze. Aber wie schon gesagt, um die gebrochenen Knochen kümmert sich keiner, alle glauben, die Fatma pflückt die deutsche Mark wie Birnen von den Bäumen.» In bildhafter Sprache, mit Worterfindungen und poetischen Einschüben und Gedichten legt Dinçer Güçyeter die Familiengeschichte offen. Berührend, humorvoll, beobachtend, mit herrlichen Anekdoten beschreibt er die Geschehnisse. Plastisch habe ich die Bilder im Kopf, wenn zur Ferienzeit in den Siebzigern und Achzigern die VW-Busse in die Türkei starteten. Dachgepäckträger, beladen mit Waschmaschinen, Koffern usw., vollbepackt mit Gepäck und Menschen, quälten sie sich mit ächzenden Stoßdämpfern die Autobahnen gen Süden hinauf. Und hier lesen wir die Sicht der Heimkehrer, die Last, das gesamte Dorf zu beschenken, damit man ein gutes Bild von sich gibt. Mitte der 60er-Jahre folgt die Mutter dem Vater nach Deutschland und er versprach ihr Wohlstand. Ein gutes Leben mit guter Arbeit. Die Arbeit für die Einwander war selten gut, hart haben sie für den deuschen Wirtschaftsboom geschuftet: Wenig Gehalt für kräftezehrende und schmutzige Arbeit, oft gesundheitsschädigend. «Unsere ausgeschabten Körper kannst du in einem Gastarbeitermuseum ausstellen: die Röntgenbilder unserer Knie, Arme, der Wirbelsäulen, der Hüften.» Den Sohn widert das patriarchale Männlichkeitsbild seines Herkunftslandes an, als «Schwanz-Welt» tituliert er es. Und er übt harsche Kritik an der religiösen Erziehung: «Man lernte zwar das arabische Alphabet, über die Bedeutung der Wörter wurde aber kein Wort gesprochen.» Religion und das Patriarchat gehören zusammen, ein Weltbild aus dem Mittelalter. Das kommt hier sehr deutlich zu Tage, wenn der Autor Frauenschicksale einfließen lässt. «Aus deinen Gesprächen mit Papa erfuhr ich, dass ihr Mann bei einem Arbeitsunfall auf einer Baustelle gestorben war, sie seitdem als Putzfrau arbeitete. Auch hier änderte sich die Regel nicht: Sie war jung, sie war schön, eine Frau, nie würde sie mit Ehre ihr Geld verdienen können und wurde schnell als Schmutzfleck abgestempelt. Andere Frauen saßen Tag und Nacht auf Balkonen, züchteten zwischen ihren Pobacken Würmer, waren auf das Geld ihrer Männer angewiesen, und wenn Fatma ihr eigenes Geld verdiente, konnte sie natürlich nur eine Schlampe sein.» Es ist auch eine besondere Geschichte, eine besondere Familie. Vater Yilmaz beginnt in einer Gießerei zu arbeiten – zu anstrengend für ihn. Als Selbstständiger setzt er einige Projekte in den Sand, verschuldet sich. Der Onkel, der einen illegalen Puff eröffnet, Yilmaz, der dann eine gutlaufende Kneipe betreibt, in der die Männer das Geld versaufen, was ihre Frauen durch Knochenarbeit erarbeitet haben. Ein gutmütiger Mann, der allzu gern Kredite vergibt, auf den Deckel schreibt, Kredite vergibt – das alles akribisch in seinem Schuldnerheft festhält. Männer ohne Gewissen, mit dem Gehirn unter dem Bauchnabel, die den Wirt nach Strich und Faden ausnützen. Was nach seinem Tod bleibt, sind Schulden. Und Fatma geht mit dem Schuldnerbuch herum. Was dann geschieht, bricht dem Leser fast das Herz. «Unter ihnen ist ein Sänger mit Schnauzer und Pferdeschwanz… Ich halte von seinen Liedern nichts, er brüllt wie der Esel im Hof. Jede Menge Musikkassetten hat er in seinem Koffer mitgebracht. Yılmaz und er fahren von einer Kneipe in die andere und verkaufen seine Kassetten. Alle Einnahmen bekommt er, ich zahle das Benzin für das Auto, übernehme die Theke in der Kneipe, und er kommt nicht einmal auf die Idee, zwanzig Mark auf den Tisch zu legen. Alle klagen über das Unrecht in der Türkei, doch wenn es um das eigene Geld geht, sind alle die gleichen Geier.» Ein ungewöhnlicher Roman, der tief berührt, weil er so ehrlich ist und einen Blick aus dem Inneren zeigt. Fremde im neuen Land, Rassismus ausgeliefert, entwurzelt, Fremde im eigenen Land. Patriarchalische Strukturen, Religiosität contra der offenen Kultur in Deutschland. Der Druck der Community im fremden Land und aus der Heimat. Unwürdige Arbeitsplätze, abgearbeitete, zerschundene Körper. Träume von einem besseren Leben, zerschellt an der Realität. Wechselnde Perspektiven, erzählerisch eingebundene Fragmente, sprachliche Experimentierlust: Monologe, Dialoge, Kinderlieder, der Gastarbeiterchor, der Chor der duldend schweigsamen Mütter, Gebete, Briefe. Ein Gesellschaftsbild der sogenannten Gastarbeiter in Deutschland: auf der einen Seite eine Abrechnung mit dem politischen Versagen Deutschlands, mit dem rassistischen Gesellschaftsbild, Brandanschläge in Solingen und Mölln – auf der anderen Seite eine Abrechnung mit dem türkischen Gesellschaftsbild des Ursprungslandes – eben ein Zwitter aus zwei Kulturen, der es schonungslos auf den Punkt bringt. Ayşe, Hanife und Fatma – drei Generationen der Frauen seiner Familie, die Dinçer Güçyeter ans Licht holt, stellvertretend für die Frauen und ihre Geschlechterrollen. «Vielleicht gab es das alles gar nicht, vielleicht ist alles nun von mir erfunden», es ist ja nur ein Deutschlandmärchen. Oh doch, sage ich, es ist die reine Wahrheit, die sich in diesem hervorragenden Gesellschaftsroman verbirgt. Ein Bildungsroman über Migration, Rassismus und Misogynie – meine Empfehlung! «Eine Frau wird von ihrem Mann in den Brunnen geworfen, und die Leute merken es erst, als die Würmer durch den Spalt des Holzdeckels kriechen. Darüber wird geschwiegen. Eine Frau ersticht ihren Mann mit Grillspießen, während er beim Beten die Stirn auf die Secde legt, sie kommt hinter Gitter.» Dinçer Güçyeter, geboren 1979 in Nettetal, ist ein deutscher Theatermacher, Lyriker, Herausgeber und Verleger. Güçyeter wuchs als Sohn eines Kneipiers und einer Angestellten auf. Er machte einen Realschulabschluss an einer Abendschule. Von 1996 bis 2000 absolvierte er eine Ausbildung als Werkzeugmechaniker. Zwischenzeitlich war er als Gastronom tätig. Im Jahr 2012 gründete Güçyeter den ELIF Verlag mit dem Programmschwerpunkt Lyrik. Seinen Verlag finanziert er bis heute als Gabelstaplerfahrer in Teilzeit. 2017 erschien Aus Glut geschnitzt und 2021 Mein Prinz, ich bin das Ghetto. 2022 wurde Güçyeter mit dem Peter-Huchel-Preis ausgezeichnet. Er ist Vater von zwei Kindern und lebt in Nettetal. Über den Verlag mikrotext ist ein unabhängiger Verlag in Berlin für Texte mit Haltung und für neue Narrative, der 2013 von Nikola Richter gegründet wurde. Mit diesem Roman gewann er den Preis der Leipziger Buchmesse 2023.

zurück nach oben