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«Ein ganzer Tag war vergangen, seit George Walker mit seiner Frau gesprochen hatte. Am Morgen war er in den Wald aufgebrochen, um einem Tier nachzuspüren, das ihm seit seiner Kindheit immer wieder entwischte, und nun brach die Nacht herein. Er hatte das Tier vor seinem geistigen Auge gesehen, als er morgens erwacht war, und die Suche nach ihm versetzte ihn in solch eine beglückende Abenteuerstimmung, dass er den ganzen Tag lang nicht ans Heimkehren denken wollte.» Georgia in den Nachwehen des Amerikanischen Bürgerkriegs, nach 1865: Über den Sezessionskrieg gibt es eine Reihe von Romanen. Aber was geschah danach? Die Sklaven waren befreit, konnten ihrer Wege gehen; oder sie mussten für ihre Arbeit bezahlt werden; das war Land zerstört, Soldaten waren arbeitslos. Der kauzige Plantagenbesitzer George Walker, Besitzer von großem Waldbestand, hatte bisher vom stückweisen Landverkauf seines Erbes gelebt, bis dato nie etwas angebaut. Ein Freigeist, der lieber seinen Hobbys nachging. Er entschließt sich nun, Erdnussfarmer zu werden, stellt ein mittelloses Brüderpaar ein. Der Nachbar ist erbost! Diese Männer seien sein Eigentum! Der vermeintlich im Krieg gefallenen Sohn der Walkers, kehrt zurück – der hatte während des Kriegs die Seiten gewechselt. Eine Familie die nicht so recht nach Old Ox passen zu scheint. «‹Wo kommt ihr denn her?› ‹Wir gehören Mr Morton. Also, gehörten.› Ted Morton war ein Dummkopf, ein Mann, der eine Geige eher auf seinem Kopf zerschmettern würde, um sie zum Klingen zu bringen, als den Bogen über die Saiten zu streichen. Sein Grundstück grenzte an Georges, und wenn irgendein Problem auftrat – meist in Form eines Ausreißers –, veranstaltete er ein so unangenehmes Spektakel mit bewaffneten Aufsehern, großschnäuzigen Hunden und Laternen, … Doch der Umstand, Mortons ehemalige Besitztümer auf seinem Land vorzufinden, barg eine erfreuliche Ironie: Wegen der Emanzipationsproklamation musste der Blödmann hilflos mit ansehen, wie sie fortzogen, und trotz all seiner zur Schau gestellten Macht stand es diesen beiden Männern nun frei, sich genauso zu verirren [im Wald], wie George es gerade getan hatte.» Die Brüder Prentiss und Landry sind auf der Suche nach ihrer Mutter, die von Ted Morton irgendwohin verkauft wurde. Nur ohne Reisegeld wird das nichts. Erstmal weg vom alten Herren, sie sind ja nun frei. Und so kampieren sie mitten im Wald, stellen Kleintieren Fallen, um sich zu ernähren. Der Wald gehört George Walker, der eines Tages auf sie trifft. Aus der feinen Annäherung der drei Männer entsteht ein Arbeitsvertrag, und später entwickelt sich eine bis dahin undenkbare Freundschaft zwischen der Familie und den neuen Arbeitern. Doch nicht alle Bewohner von Old Ox sehen solche neuartigen Allianzen gern. Und so dauert es nicht lange, bis sich die Schwierigkeiten hochschaukeln. Eine persönliche Katastrophe und die sich daraus entwickelnden Komplikationen sind unvermeidlich – das Drama nimmt seinen Lauf. Ich hatte ein paar Anlaufschwierigkeiten mit dem Roman – doch dann hat er mich gepackt. Alle Figuren sind etwas schrullig, liebevoll aufgebaut, empathisch, mit Rückblicken in die Zeit vor dem Krieg, die die Lebensverhältnisse der Sklaverei gut aufrollt. Die Antagonisten sind nicht so scharf gezeichnet, aber sie bewegen sich auch in den Nebenrollen. Hier wird niemand verschont. Sensibel blättert Nathan Harris die Verletzlichkeit der einzelnen Protagonisten auf, lässt sie in sich ruhen und zurückziehen. Auch Mutter Isabel geht in diesem Roman einen neuen Weg. Der Wald, die Natur, ist fühlbar, ein wichtiger Ort für alle Beteiligten. Von rassistischen Strukturen kann man sich nicht per Dekret verabschieden. Gut, die Sklaven sind frei, aber das Denken in den Köpfen noch lange nicht – auf beiden Seiten. Was sollen die Schwarzen mit ihrer Freiheit anfangen, was steht ihnen zu und wohin sollen sie gehen? Auf der anderen Seite die Plantagenbesitzer, die ihre brachliegenden Farmen wieder auf Vordermann bringen müssen. Nur mit wem? Diese N… gehören ihnen doch, ihr Eigentum! Man hatte ihnen Wohnung, Essen und Kleidung gegeben. – Was wollen sie denn noch? Von Ketten und Schlägen, vom Verkauf von Kindern usw. keine Rede – zumindest nicht auf der alten Herrenseite. Der verinnerlichte Rassismus bleibt. Und genau das war der Fehler, der im Inneren der Menschen bis heute in den USA fortgelebt wird. Freiheit ist nicht zu verwechseln mit Gleichberechtigung. Man fragt sich, ob die Unionisten daran auch nur einen Gedanken verschwendet haben; das überhaupt ein Ziel war. Berührend und sprachlich hervorragend gestaltet, entwickelt sich eine rasante Geschichte ab der Mitte des Buchs – das Drama war voraussehbar, bricht dem Leser fast das Herz. Doch am Ende blinzelt die Sonne – allerdings nicht für jeden. Ein wichtiger Stoff, Ein Roman, der auf jeden Fall hängenbleibt. Empfehlung! Ein historischer Roman, der ein Abbild seiner Zeit ist. Nathan Harris, Jahrgang 1991, erhielt seinen Master am renommierten Michener Center for Writers an der University of Texas. Sein Debütroman DIE SÜSSE VON WASSER sorgte in den USA direkt nach Erscheinen für großes Aufsehen und stieg sofort auf die New-York-Times-Bestellerliste ein. Neben vielen weiteren Auszeichnungen stand der Roman u. a. auf der Longlist für den Booker Prize 2021. Nathan Harris lebt in Austin, Texas.