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gwyn

Posted on 30.5.2023

Der Anfang: «Ein Spatz hüpfte durch die Gitterstäbe. Da wusste Sigrid, dass sie auf dem Weg zu ihr waren. Die Krümel des Fladenbrotes lockten die Vögel an, die hereinflogen, wenn die Gefängniswärter die Stahltüren zum Frauentrakt öffneten.» Im Frühling 2011 kündigt die Menschenrechtsaktivistin Sigrid Melin bei Amnesty International und nimmt einen Job in der Telekommunikationsfirma NorCom an, um die «soziale Nachhaltigkeitsstrategie» des Projekts bei der Aufstellung der Strommasten in Syrien zu überwachen, zu beraten. Sie wird vom dänischen Nachrichtendienst angesprochen, einen Mitarbeiter aus Regierungskreisen vor Ort als Agent zu rekrutieren. In Damaskus trifft sie auf Reem, eine syrische Frau, die früher einmal ihre beste Freundin und Studienkollegin war. Ein tragisches Ereignis steht zwischen ihnen; eine Jugendsünde. Die regierungsnahe Reem führt ein Securityunternehmen, und sie ist nun für die Sicherheit der Mitarbeiter der dänischen Firma zuständig. Es ist die Zeit des arabischen Frühlings, und auch in Syrien gehen die Studenten auf die Straße, fordern den Rücktritt von Diktator Baschar al-Assad. Reem war früher Freiheitsaktivistin, heute scheint ihre Loyalität der Regierung zu gehören; sie ist mit dem Innenminister eng befreundet, ihr Mann ist Arzt in einem Krankenhaus. «‹Man hat mich gebeten, mich für den Posten der stellvertretenden Geschäftsführerin in der Abteilung Soziale Verantwortung zu bewerben›, sagte sie. ‹NorCom will dem syrischen Volk Zugang zum Internet ermöglichen und sich in den Geschichten vom arabischen Frühling sonnen›, fügte sie ein bisschen zu schnell hinzu. ‹Obwohl Syrien davon nicht wirklich berührt ist. Aber sie werden es bestimmt nicht tun, ohne dass die Welt von ihren guten Taten erfährt.›» Als Beraterin von NorCom fährt Sigrid mit zu den Baustellen. Es wird immer schwieriger, sicher durch die Stadt zu fahren, überall wird geschossen. Weite Umwege müssen in Kauf genommen werden; der Geheimdienst sperrt immer wieder ganze Stadtteile. Besonders am Freitag wird es kritisch, da die Demonstranten sich nach dem Freitagsgebet vor den Moscheen sammeln können, ohne gleich aufzufallen. Die dänische Firma hat ein Ziel: «It’s a human right to be online» – jeder Mensch soll Zugang zum Internat haben. Und genau das hat für die syrische Regierung einen Haken. Aufrufe und Verabredungen, Fotos und Videos über das brutale Vorgehen von Polizei und Geheimdienst kommen ins Netz – die man versucht zu löschen. Die Urheber und Weiterverteiler werden verhaftet. Und als die Regierung den Befehl erteilt, lokale Sendemasten für bestimmte Zeit abschalten, um die Ausbreitung von Handyvideos zu unterbinden, fällt Sigrid eine gefährliche Entscheidung, die sie in Lebensgefahr bringt. Sie landet selbst im Folter-Gefängnis Al-Khatib (womit der Roman beginnt). «Sigrid hat einen Pakt mit sich geschlossen: Wenn sie den Auftrag für den Nachrichtendienst erfolgreich erledigte, wäre sie endlich frei. Frei von Schuld. Bei dem Gedanken wurde ihr ganz heiß, und ihr Blut pochte hinter den Schläfen. Das Schamgefühl begleitete sie schon seit so vielen Jahren, dass sie gar nicht mehr wusste, wie es sich anfühlte, ohne es zu sein.» Anhand dieser rasanten Story wird der Beginn der Unruhen 2011 in Syrien geschildert, die letztendlich den Bürgerkrieg auslösten. Ein Pageturner, ein spannender Spionageroman! Jeder spielt hier sein eigenes Spiel zu eigenen Interessen und manch einer weiß nicht, in welche Richtung er gehen soll. Der ein oder andere springt über seinen Schatten und einige lügen, betrügen, treiben ein böses Spiel. Wem kann man trauen? Wie weit wird jemand für seine Überzeugung gehen und wer ist schlussendlich ein feiges Schweinchen? Welches Spiel treibt NorCom mittendrin? Spannung pur, ein brutaler Diktator, zwischendurch entspannend kleine unbeschwerte Passagen, die die Schönheit Syriens und das arabische Essen stimmungsvoll einfangen. Eine feine Figurenzeichnung und ein komplexer, glaubwürdiger Plot zeichnen das Buch aus. Sigrid, die Hauptprotagonistin ist getrieben von ihrem Gerechtigkeitssinn und einer Schuld aus jungen Jahren, die sie wieder gut machen will. Für diese beiden Ziele ist sie bereit, alles zu opfern. Interessante Neben- und Randfiguren bereichern die Geschichte. Multiperspektiv mit mehreren Handlungssträngen blättert der Politthriller systematisch das Vorgehen von Baschar al-Assad und seinem «Mukhabarat» auf. Geschichtlich interessant, lässt es dem Leser das Blut in den Adern gefrieren. Der Noir-Thriller beschreibt die Brutalität, mit der Mukhabarat während der Massenproteste ab 2011 versuchte, Informationen aus Regimekritiker:innen herauszufoltern. Es zeigt aber auch die Naivität der Regierung und wie schlecht das Regime auf eine Bewegung vorbereitet war, die nicht nur durch öffentliche Proteste, sondern sich ebenso digital formatierte. Mobiltelefon – die Freiheit, an Information zu gelangen, sich mitzuteilen auf der einen Seite – aber auch das Instrument, um dich aufzuspüren. Letzteres hat der Mukhabarat erst nach 2011 gelernt; gleichwohl lernten sie schnell – glücklicherweise nicht so schnell, wie es hier geschildert wird (siehe diverse Berichte von syrischen Bloggern). Das ist egal; denn für den spannenden Plot und die Message war es wichtig. Fluch und Segen liegen oft beieinander. Hochspannung, Noir, bis zur letzten Seite – Taschentuch bereitlegen, sich den Schweiß von der Stirn zu wischen oder sich ein Tränchen abzutupfen. Was hier geschieht, ist beinharte Reality – genau das geht ans Herz – macht wütend. Absolut zu empfehlen! Iben Albinus wurde 1972 in Dänemark geboren und war als als Journalistin und Kulturkritikerin tätig. Heute arbeitet sie als Drehbuchautorin, schreibt erfolgreich Fernsehserien und lehrt als Dozentin für Drehbuchgestaltung an der Syddansk Universitet. Damaskus ist ihr erster Roman.

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