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«Und nun hast du es endlich geschafft. Du bist neunundfünfzig und Eigentümer. Wenn in ein paar Jahren Ümit die Schule beendet und du endlich Deutschland, dieses kalte, herzlose Land, verlassen kannst, dann gibt es diese Wohnung hier mit deinem Namen auf dem Klingelschild. Hüseyin! Du hast endlich einen Ort gefunden, den du dein Zuhause nennen kannst.» Vor dreißig Jahren kam Hüseyin nach Deutschland. Er hat hart gearbeitet, und nun in Rente erfüllt er sich seinen Traum: eine Eigentumswohnung in Istanbul. Seine älteste Tochter, Sevda, soll kommen, er will sie um Verzeihung bitten. Sorgsam hat er alles eingerichtet, nun kann Emine anreisen, sie werden ihre Kinder und Enkel einladen – doch im letzten Augenblick erleidet Hüseyin einen Herzinfarkt. Zur Beerdigung reist seine Familie aus Deutschland an, so schnell wie möglich – nicht alle werden es pünktlich zum Begräbnis schaffen. Eine Familie, sechs Personen – jeder bekommt sein Kapitel – sechs grundverschiedenen Menschen, die zufällig miteinander verwandt sind. Fatma Aydemirs Gesellschaftsroman erzählt eine Einwanderergeschichte, ein Familienroman voller Träumen und Traumata. «Deutschland war nicht das, was du dir erhofft hattest, Hüseyin. Du hattest dir ein neues Leben erhofft. Was du bekamst, war Einsamkeit, die nie ein neues Leben sein kann, denn Einsamkeit ist eine Schleife, ist die ständige Wiederholung derselben Erinnerungen im Kopf, ist die Suche nach immer neuen Wunden in längst entschwundenen Ichs, ist die Sehnsucht nach Menschen, die man zurückgelassen hat.» Der Roman ist vollbepackt mit Themen: Migration, Frauen ohne Bildung und Rechte, Rassismus, Religion, Coming-of Age, Homophobie, Heimweh, Identität, Transidentität, Depression, Armut. Man könnte meinen, das sei zu viel. In diesem Fall ist es in Ordnung, weil nämlich alles mit allem zusammenhängt: der Migrationsspagat; Familienmitglieder mit verschiedener Sozialisation, mit eigenen Träumen und die Zeit, in der sie geboren werden, spielt auch eine Rolle. Ein Familienreigen – alle gehören zusammen, aber jeder tanzt für sich selbst. Und da jedes Familienmitglied ein eigenes Kapitel besetzt, ist das auch gut zu trennen. Es beginnt gleich mit der Beerdigung, die den anreisenden Kindern so fremd erscheint. Weil Hakan zu spät kommt, muss Ümüt die Zeremonie begleiten. Dieser Hodscha ist ihm fremd. So etwas kennt er nicht und schon gar nicht spricht er Arabisch; auch nicht Kurdisch – wieso reden hier alle kurdisch, sie sind doch Türken … Was passiert hier und wie hat er sich zu verhalten, was erwartet man von ihm? Wie? Den toten Vater waschen? «Hüseyin hatte dir erst deine Muttersprache genommen und dich dann in ein Land gebracht, in dem du gar keine Sprache mehr hattest. Es fühlte sich an, als habe er dich verraten. Als verrate er dich täglich, seit ihr euch das erste Mal begegnet wart, indem er sein Innerstes vor dir verbarg.» Damals kam Hüseyin nach Istanbul auf dem Weg nach Deutschland. Eine Übernachtung hatte gereicht, sich in die Stadt zu verlieben. Lange hat er Schichtarbeit am Schmelzofen einer Metallfabrik geleistet, Doppelschichten gefahren, um Geld anzusparen. Als er körperlich nicht mehr konnte, hat er die letzten Jahre in der Kartonfabrik gearbeitet, schaffte es nicht bis zum Renteneintritt; die harte Arbeit hat ihn buchstäblich krumm gemacht. Emine und er sind Kurden, die sich in einer türkischen Kleinstadt kennengelernt haben. Sie verleugnen die eigene Identität, sprechen nur Türkisch, weil man als Kurde keine Rechte hat, ein Niemand ist - sie sind Türken; Basta. Ein doppelter Sprachverlust für Emine. Ihre Kinder ahnen nichts von ihren Wurzeln. Sie konnte sich in all den Jahren nicht mit Deutschland anfreunden, spricht die Sprache nur in Fragmenten. Depressionen fressen sie auf; ein Thema, das es nicht sein darf, weil es das nicht gibt, es sei, man ist vom Dschinn besessen. Sie hat zwei Kinder verloren – und das eine wird sie nie loslassen; niemand darf das je erfahren. Ihre Ehe war sprachlos; nicht glücklich für sie. Vier Kinder – zwei Töchter, die sich von den Eltern abgewandt haben. Eine Wohnung in der Heimat. Aber Istanbul? Sie kennt diese Stadt nicht. «Eigentlich war er [Ausweis] einem Kind ausgestellt worden, das ein Jahr vor ihr zu Welt gekommen und nach wenigen Wochen gestorben war. Es hatte auch Sevda geheißen, und weil der Weg vom Dorf in die Stadt schon in den Sommermonaten beschwerlich und im Winter fast unmöglich war, hatte man sich nicht die Mühe gemacht, den Tod des einen und die Geburt des anderen Kindes zu melden.» Sevda, die älteste Tochter der Familie wächst bei den Großeltern auf, kommt erst mit fünfzehn nach Deutschland. Sie trägt den Namen und das Geburtsdatum ihrer vor ihr verstorbenen Schwester. Als sie zwölf Jahre alt ist, nimmt der Vater die Mutter, Hakan und die dreijährige Schwester Peri nach Rheinstadt. Nur Sevda bleibt zurück. Später möchte sie in Deutschland zur Schule gehen, lesen und schreiben lernen; doch die Mutter hält das für sinnlos, sie wird bald von ihren Eltern zwangsverheiratet. Das Verhältnis zu Mutter ist kalt, sie fühlt sich unerwünscht, ungeliebt. Als sie sich von ihrem Ehemann trennt, einem Alkoholiker und Versager, brechen die Eltern mit ihr. Alleinerziehend arbeitet Sevda in einem Restaurant und als die Besitzerin in Rente geht, schafft sie es sogar, dies zu übernehmen. Sie hat sich durchgeboxt, sie hat ihren Traum erfüllt. «Aber wie kann es sein, dass Ümit nicht mitbekommen hat, dass seine Mutter kurdisch ist? War sein Vater es etwa auch? Was sind dann seine Geschwister und Ümit selbst?» Hakan ist das schwarze Schaf, ein Kleindealer, der mehrfach mit der Polizei zu tun hatte, der mal hier und da jobbt. Sein Vater hat immer unter dem Radar gelebt, ihm gepredigt, dies auch zu tun: ja nicht auffallen, sich alles gefallen lassen, bloß nicht beschweren, immer nur lächeln. Wir sind die guten Türken, die alle gern haben. Doch so funktioniert die Welt nicht, weiß Hakan. Er soll an die Stelle des Vaters als Familienoberhaupt treten. Doch das hat er garantiert nicht vor, da er unter der Rolle seines Babas gelitten hat. Und in der Türkei muss er feststellen, hier ist es nicht besser: In Deutschland ist er der Türken-Kanake, in der Türkei der Deutsch-Kanake. Perihan, genannt Peri, die Dritte hat den Bildungsweg geschafft; sie ging hier bereits in den Kindergarten, war zielstrebig und fleißig. Doch auch sie hasste die Familienzwänge, ahnte, dass man sie bald verheiraten werde. Sie suchte sich einen Studienort weit weg von der Familie entfernt, zog nach Frankfurt, um frei zu sein. Die Germanistikstudentin und Feministin blickte niemals zurück. Sie bemerkt in Istanbul, dass sie seit Jahren nicht mehr an ihren Vater gedacht hat. Der fünfzehnjährige Ümüt ist schwul. Das darf natürlich niemand wissen. Als der Fußballtrainer etwas ahnt, schickt er in zu dem seltsamen Dr. Schumann in die Therapie, um die «Krankheit» loszubekommen. Ümüt ist der Jüngste, er wird seinen Weg gehen. Alleine, von der Familie abgewandt, oder rücken sie nun ein wenig zusammen? In der Familie Yilmaz hat jeder seinen Dschinn – schweigen, vertuschen, damit kommt man durch; denn hier gibt es zu viel, was nicht sein darf. «Sie nahmen dir das Kind weg, und du sahst onu nie wieder. Noch heute fragst du dich, wie du das hast geschehen lassen können, Emine. Was dich davon abgehalten hat, onu zu verstecken, onu nicht herzugeben, wenigstens deine Stimme zu erheben gegen dieses Unrecht.» Fatma Aydemir arbeitet fast filmisch, dreht den Weitwinkel auf Zoomstellung, Nähe und Distanz, Innen- und Außenansicht, rückt so ihren weiblichen Figuren auf die Pelle, bis ins Innerste. Die drei Männer werden nur wenig beleuchtet, sind fast zu Randfiguren erstarrt. Eine Person erzählt uns die Familiengeschichte – ein Dschinn oder eine tote Seele? – berichtet über die Geschehnisse und spricht die Eltern-Figuren direkt an, fordert sie, sich selbst zu stellen. Sie werden von inneren Stimmen angesprochen. «Ich bin einfach nur die Stimme in deinem Kopf, Emine. Ich bin nichts ohne dich. Also sag mir, wer bist du?» Sevda kämpft um den Respekt der Mutter. Peri und Ümüt haben erhalten, was sie sich immer wünschte: Bildung. Trotzdem hat sie es geschafft. Nach der Beerdigung löst sich die Gesellschaft auf. In der Wohnung bleiben Sevda und Emine in der Wohnung zurück. «Warum hast du mich nicht zur Schule geschickt, Anne?» – «Warum bist du nie zufrieden, Tochter?» In der schlaflosen Nacht fangen sie an zu erzählen. Sevda packt ihren Sack der Vorwürfe aus. «Es war nicht Baba, der mich unbedingt verheiraten wollte, sobald ich achtzehn wurde. Das warst du, Anne.» Die beiden Frauen trennen nur 16 Jahre! Und dann öffnet Emine ihr Herz, lässt die Geheimnisse ans Tageslicht, die so lange auf ihrer Seele drückten. Ein grandioses Ende. «Dschinns» stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2022, und das zu Recht. Ein feiner Gesellschaftsroman, Bildungsroman, Familienroman über eine Einwandererfamilie. Empfehlung! Fatma Aydemir wurde 1986 in Karlsruhe geboren. Sie lebt in Berlin und ist Kolumnistin und Redakteurin bei der taz. Bei Hanser erschien 2017 ihr Debütroman Ellbogen, für den sie den Klaus-Michael-Kühne-Preis und den Franz-Hessel-Preis erhielt. 2019 war sie gemeinsam mit Hengameh Yaghoobifarah Herausgeberin der Anthologie Eure Heimat ist unser Albtraum. Ihr zweiter Roman Dschinns (Hanser, 2022) wurde mit dem Robert-Gernhardt-Preis und dem Preis der LiteraTour Nord 2023 ausgezeichnet.