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gwyn

Posted on 30.5.2023

Der Anfang: «Im Grunde ist es ganz einfach: Ich verlasse dich. Drei Wörter, die jeder Mensch begreift. Es genügen drei Wörter, und alles ist getan. Man muss sie bloß aussprechen. Ich bin erstaunt, dass es so einfach ist. Und noch etwas erstaunt mich: Der Satz ist genauso kurz wie der, den ich am Anfang unserer Geschichte gesagt habe. Am Anfang habe ich zu dir gesagt: Ich liebe dich. Drei Wörter am Anfang und drei am Ende.» Eine Frau will ihren Mann nach 31 Jahren verlassen. Der zweite Teil der autofiktionalen Trilogie von Julia Schoch – wobei dieser Teil mit dem anderen nicht viel zu tun hat, ein eigenständiger Roman ist. «Ich liebte dich sofort», berichtet die Icherzählerin und beschreibt schnörkellos, den Werdegang ihrer Ehe. Sprachgewaltig, mit wunderschönen Szenen filetiert sie ihre Beziehung, beschreibt mit feiner Beobachtungsgabe und schonungsloser Selbstreflexion. Das macht den Roman lesenswert, sprachlich ein Genuss. Gleichzeitig ist mir die Icherzählerin von der ersten bis zur letzten Seite auf die Nerven gegangen. Das liegt in der Persönlichkeit der Erzählerin. «Es ist mir immer natürlich vorgekommen, dass mein Lebensplan ausschließlich der Liebe gehorchte. Alles was ich tat oder unterließ, geschah in Abhängigkeit zu dir.» Ein junges Paar, dass sich nach dem Fall der Mauer an einer Universität in Ostdeutschland kennenlernt. Sie verlieben sich sofort. Er ist ein wenig nerdig, erscheint in alten Anzügen zu den Vorlesungen. Sie hat ab dem Zeitpunkt noch eins im Kopf: Ihn! Sie will bei ihm sein, alles andere ist ihr egal. Er! Sie schneidet sich sogar die Haare ab und kleidet sich in Anzüge um ... Warum eigentlich? Um wie er zu sein? Plattenbausiedlung, Telefone mit Kabeln, Vanilletee trinken, auf dem Fußboden sitzen, Literatur genießen. Was kostet die Welt? Man ist jung und will sie leben ... Ihr zentraler Lebensmittelpunkt ist ER, immer nur er, keine Minute ohne ihn sein. Wildes, armes Studentenleben – mit ihm. Und dieses Anbeten endet gar nicht ... Affenliebe! Beim Lesen wurde ich kribbelig. Irgendwann ziehen sie zusammen, denn sie ist schwanger. Und nun klingt es so, als säße sie nur noch zu Hause und kümmere sich um den Haushalt und die beiden Kinder, schon nach dem ersten Kind spürt sie den Bruch der Beziehung. Es gibt kaum noch Kommunikation zwischen dem Paar, denn das was sie vom Tagesgeschehen zu sagen hat, erscheint ihr abends zu belanglos – die Kinder, der Einkauf, der Haushalt. Doch halt! Es gibt auch Zwischentöne, wenn sie von ihren Lesereisen von Vorträgen berichtet – manchmal eine Kinderübergabe auf der Straße. Sie jammert die gesamte Zeit über ihr Dasein zu Hause (das kann ja so nicht ganz stimmen) und über die abbröckelnde Liebe. «Von hier ab könnte ich genauso gut schreiben, der Mann tat dies, die Frau tat jenes.» Sie ist ca. 20-25 Jahre lang unglücklich, jammert; überlegt, den Mann zu verlassen. Genau dieses Gejammer ist mir auf die Nerven gegangen. «Jemanden zu verlassen heißt: Ich verlasse meine Vergangenheit. Zögert man deshalb? Wer will schon gern ohne Geschichte leben?» Er ist unterwegs und macht Karriere. Sie stellt es in den Raum, als wäre sie lediglich eine «Hausfrau». In Nebensätzen aber ihre Vorträge, Lesungen, Lesereisen. Über ihre berufliche Tätigkeit erfahren wir nichts. Scheinbar entwickelt sie sich ebenfalls weiter, obwohl man immer das Gefühl hat, sie würde sich vernachlässigt fühlen, zurückgesetzt. Das spricht sie so nicht aus, aber das Gefühl bleibt in jedem Satz zurück. «... wolltest du morgens, wenn die Kinder aus dem Haus waren, noch ein wenig plaudern, war ich in Gedanken schon im Büro; legte ich abgeschlagen die Füße hoch, hattest du Kinokarten für den Abend. Dann kamst du früher von der Arbeit, um irgendwas zu kochen, aber ich war unterwegs, in der Annahme, du kämst später.» In kleinen Sequenzen lässt die Erzählerin uns an ihrem Leben teilhaben; Nebensätze. Das Paar lebt zwei Leben nebeneinander her. Gleichzeitig zeigt uns die Autorin im Rückblick liebevolle Szenen, in denen der Mann glänzt, empathisch als Familienmensch herüberkommt, als ein Ritter für die Gerechtigkeit. Sie entdeckt Handlungen von damals, die sie erst jetzt versteht, weil sie zu der Zeit die Hintergründe nicht kannte, mit denen sie Frieden schließt. Der Roman ist keine Abrechnung, sondern die Beschreibung von einem Netz aus kleinen Rissen, die zum Sprung führen. Doch letztendlich kristallisiert sich das Ende bereits nach dem ersten Kind. Denn ab hier wird gejammert. Die Affenliebe, die mich genervt hat, geht über in Genörgel, das mich beim Lesen genauso zermürbte. Die Erzählerin glaubt in jeder Minute, irgendwann wird alles wieder gut; doch das Nichtgut geht immer weiter. Von diesem Mann erfahren wir zu wenig, um ein vollständiges Bild zu bekommen. Das Gegenstück aus seiner Sicht würde ich gerne lesen! Literarisch ist der Roman ein Meisterstück, aber für diesen Seelen-Striptees benötigt man Nerven – zumindest ging es mir so. Das trübsinnigste Liebespaar des Jahrhunderts! «Jeder in seiner Blase, gingen wir freundlich-gleichgültig miteinander um. Ich wusste, dass du der einzige Mensch bist, der mir außer den Kindern ernsthaft etwas bedeutete, aber ich konnte es nicht mehr empfinden.» Julia Schoch, 1974 in Bad Saarow geboren, aufgewachsen in der DDR-Garnisonsstadt Eggesin in Mecklenburg, gilt als «Virtuosin des Erinnerungserzählens» (FAZ) und bekam für ihre von der Kritik hochgelobten Romane und Erzählungen schon viele Preise, zuletzt den Schubart-Literaturpreis für ihren Roman «Das Vorkommnis. Biographie einer Frau». Für ihr schriftstellerisches Gesamtwerk wurde ihr 2022 die Ehrengabe der Deutschen Schillerstiftung verliehen. Sie lebt in Potsdam.

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