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gwyn

Posted on 29.5.2023

Der Anfang: «Der Wald umschloss die kleine Stadt wie eine Faust. Ob es die Hand Gottes war oder die des Teufels, wusste niemand so genau. Wenn die Bewohner wieder einmal unsicher waren, bauten sie eine weitere Kirche aus dem Holz des Waldes, der großzügig ihren Glauben stützte. Sie schmückten sie mit Ikonen, weihten sie und fühlten sich beschützt, für eine Weile. Es war Eichenholz, hart und belastbar, aus dem hier fast alles bestand: die Palisaden der Festung, die auf einem Plateau über dem Fluss Dâmboviţa thronte, der Belag der Uliţa Mare, der einzigen Gasse, die diesen Namen überhaupt verdiente; die Dachschindeln der schäbigen Häuser, wenn man sich so etwas leisten konnte – ansonsten reichte auch Schilf –, die Wiegen der Neugeborenen und die Särge der Toten.» Als er 1892 errichtet wird, ist der Feuerturm von Bukarest das höchste Gebäude der Stadt. Der Ich-Erzähler, Victor Stoica, gehört zu einer Familie, die seit Generationen Feuerwehrmänner stellt und in der Nähe vom Turm lebt. Er ist der Erste, der mit dieser Tradition bricht, Geschichte studiert. Victor, Opfer der Diktatur, der denunziert wird und für zehn Jahre in Foltergefängnisse und Straflager verurteilt wird, verraten vom besten Freund, der nun beim Geheimdienst Securitate arbeitet. Und auch der Bruder fällt ihm vor Gericht in den Rücken. Nach dem Gefangenen-Martyrium erlebt Victor 1989 den Volksaufstand, hofft nun auf Freiheit und ein besseres Leben. Der historische Roman fasst gut recherchiert ein Jahrhundert zusammen, Nationalismus, Liberalismus, Faschismus und Kommunismus, wechselnde Regierungen und Katastrophen, Kriege – ein Bild von der Vielvölkermetropole Bukarest um 1900 beginnend, mit dem Untergang der jüdischen Gemeinde bis zur Beendigung der Diktatur durch Ceausescu («goldene Zeit der Denunzianten»). Ein Familienroman, die Stoicas, fünf Generationen Bukarester Feuerwehrleute, eine Geschichte, die von Freundschaft, Verrat und Liebe handelt. Die Geschichte Rumäniens. «Feuerwehrmann zu sein, ist ein ehrenwerter Beruf … Aber wir sind auch Soldaten, und wenn man uns etwas befiehlt, gehorchen wir.» Ein spannender Anfang über die Siedlung, aus der eine Metropole entstehen wird, weiter in den Jahrhunderten, hinübergehend zur Familie der Feuerwehrmänner. So sehr der Anfang reizt, sich mit der Familie die Tonalität sich wandelt, muss ich zusammenfassend sagen: Ich habe mich durch den Roman durchgekaut, immer mal wieder quergelesen. Es geht kreuz und quer zwischen den Generationen und man verliert schnell den Überblick. Victor Stoica bricht aus zwei Gründen mit der Familientradition: Feuerwehrmann zu sein ist nicht sein Traumberuf, noch weniger kann er sich damit identifizieren, zu gehorchen. Im Gefängnis sitzend denkt er zurück an seine Ahnen. «Wir haben früh gelernt, bei Carol II., bei Antonescu, vielleicht noch früher, bei den Großgrundbesitzern, den Osmanen, den Russen, den Habsburgern, den Ungarn, wie wertvoll es ist zu schweigen. Es rettet Leben, in erster Linie das eigene. Sich zu ducken, in die Wälder zu flüchten, sich unsichtbar machen, klagen, ohne sich aufzulehnen, sich mit teuflischen Verhältnissen zu arrangieren, das hat dafür gesorgt, dass wir zwar erobert, aber nicht ausgelöscht wurden.» Ein Ururgroßvater, der glaubt, im Alleingang die Stadt gerettet zu haben, die Urgroßmütter Ecaterina und Agape mit großen Herzen, nehmen streunde Kinder auf und verstecken Menschen, Militärdiktatur und Judenverfolgung unter Antonescu – die Männer funktionieren, erledigen das, was der Staat befielt. Der Umbau Bukarests mit Monumentalbauten und Hochhäusern unter Ceausescu («mit den Kommunisten verschwand auch der Charme»), die starke Religiosität und Heiligenverehrungen der Frauenfiguren, die vielen Kirchen; Bericht aus den Gefängnissen, aus den Folterkellern – rumänische Geschichte pur. Mit viel Humor straffen Anekdoten Historisches zusammen. Die Komik versiegt unter der Diktatur wie das Essen im Kochtopf – geduckt schleicht man durch die Gassen, um nicht aufzufallen. Folter und Gefängnis trifft die, die zu laut denken. Andere finden Gefallen an der Macht der Unterdrücker. Es gibt stimmungsvolle Augenblicke, wunderbare literarische Szenen, Ungesagtes, versteckt hinter Offensichtlichem, das reizt – aber insgesamt konnte der Roman mich nicht packen. Momente, die mich als Leserin hineinfallen lassen, um dann wieder herauskatapultiert zu werden – Interessantes, Historisches auf jeden Fall. Alles in allem wird mir zu sehr gesprungen in den Zeiten; Erinnerungen hier und da, anekdotenhaft präsentiert – der Fluss der Geschichte hat mir hier gefehlt. Rumänische Sätze ohne Übersetzung – ein spärliches Glossar – waren auch nicht hilfreich. Historisch interessant, die Geschichte Rumäniens zu begreifen; im Lesefluss recht mühsam. «Mochten Armeen gekommen sein und die Stadt zermalmt haben, mochten Flugzeuge am Himmel aufgetaucht sein und sie in eine Kraterlandschaft verwandelt haben, mochten Rotarmisten oder Grünhemden sie terrorisiert haben, mögen die Kommunisten Bukarest verunstaltet haben, möge der Mensch vor Hunger und Unglück kriechen, der Turm würde alles stumm und gelassen erdulden. Denn alles schien ein Verfallsdatum zu haben, nur er nicht.» Catalin Dorian Florescu ist 1967 in Rumänien geboren und hat seine Kindheit in der kommunistischen Diktatur verbracht. 1982 schaffte es die Familie, sich in den Westen abzusetzen. Seitdem wohnt der Autor in Zürich, wo er Psychologie studierte. Für mehrere Jahre arbeitete er im Bereich der Drogenabhängigkeit und ließ sich in Gestalttherapie ausbilden. Seit Dezember 2001 lebt er als freier Schriftsteller. Im Jahr 2019 war er als «literarischer Matrose» auf der Donau unterwegs. Seit einem Jahr arbeitet er wieder therapeutisch. Er hat u.a. sieben Romane geschrieben – eine Auswahl: «Wunderzeit», «Zaira», «Jacob beschließt zu lieben», «Der Mann, der das Glück bringt», bis auf das Erste alle im Verlag C.H.Beck. Wichtigste Literaturpreise: Schweizer Buchpreis 2011, Anna Seghers-, Josef von Eichendorff- und Andreas Gryphius-Literaturpreis. In Rumänien wurde ihm die Kavaliersmedaille für kulturelle Verdienste verliehen.

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