Yvonne Franke
Henry Preston Standish ist ein unfassbar peinliches Missgeschick unterlaufen, eines das ganz und gar nicht seinem Selbstbild, seinem gesellschaftlichen Stand entspricht. Auf seiner Reise von Hawaii nach Panama, rutscht er unversehens auf einem Ölfleck aus, verliert das Gleichgewicht und landet mitten im Ozean. Dem geschickten Ausweichen der Schiffsschraube, die drauf und dran war, ihn zu zerfetzen (ein großer Schreck, aber einer, der recht schnell vergeht) folgt die Scham. Was soll er tun? Es ist lächerlich und fast müsste man hoffen, niemand würde es bemerken. Aber es hilft nichts, er würde sich bemerkbar machen müssen. Doch als Standish den Mund öffnet, kommt kein Wort heraus. Erst als die Panik sein Bewusstsein erreicht und die in seinem wohlerzogenen Wesen alles übertünchende Scham verdrängt, findet er seine Stimme wieder und brüllt um Hilfe. Doch das Frachtschiff Arabella zu dessen wenigen Passagieren er noch vor einem Augenblick gehört hatte, ist bereits einige hundert Meter weit entfernt. Seine Schreie bleiben ungehört. Was nun beginnt, ist ein existenzielles Gefühls- und Gedankenfeuerwerk. Begonnen mit einem Lachen, so laut und kraftvoll, wie noch kein Standish vor ihm es je gewagt hatte zu lachen, begleitet von der festen Überzeugung, natürlich sehr bald gerettet zu werden. Man würde sein Fehlen sofort bemerken, er war zu allen Mitpassagieren seit nun 13 Tagen überaus freundlich gewesen, hatte sich an mehreren Stellen sogar unverzichtbar gemacht. Doch die Arabella entfernt sich weiter und weiter, vollkommen unbeeindruckt vom Schicksal des Henry Preston Standish, bis sie schließlich am Horizont verschwindet. Der New Yorker Autor, Sportreporter, Auslandskorrespondent und schließlich Drehbuchautor im alten goldenen Hollywood, Herbert Clyde Lewis, hat dem Helden seines Romans eine Beständigkeit geschenkt, die ihm selbst fehlte. Er gab ihm eine Familie, einen gut bezahlten Job, ein Zuhause und unerschütterliches gesellschaftliches Ansehen, nur um ihm mit einem einzigen Fehltritt alles wieder zu entreißen. Er überlässt seinen Standish einer ruhigen See, die ihm Zeit gibt, ihn nicht sofort in die Tiefen zieht. Standish darf sich vorstellen, gerettet zu werden, seine Geschichte zu erzählen. Lewis lässt ihn zum ersten Mal in seinem Leben einen Mangel erleiden und auch den Tod in Betracht ziehen, lässt ihn übermenschliche Kräfte und Euphorie erleben, die sich dann ins Gegenteil kehren. "Gentleman über Bord" im amerikanischen Original erschienen im Jahr 1937 und hier erstmals ins Deutsche übersetzt von Klaus Bonn, klopft alle denkbaren Facetten des Menschseins ab und wirft uns mitten hinein in dieses Schicksal, als wären wir unversehens auf etwas ausgerutscht.