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letterrausch

Posted on 20.5.2023

Bei Ullstein gibt es ihn offenbar noch: den Frauenroman. Ganz selbstbewusst wird das Debut der Engländerin Fran Littlewood als solcher bezeichnet und als Leserin stutzt man: Gibt es das tatsächlich noch? Den Frauenroman? Chick Lit? Waren wir da nicht längst drüber hinaus? Waren wir nicht mittlerweile an einem Punkt angekommen, wo Bücher für Menschen geschrieben werden? Das Publikum für einen Roman wie „Die unglaubliche Grace Adams“ künstlich so einzugrenzen und zu verengen, erweist dem Buch einen Bärendienst. Klar, geschrieben wurde es von einer Frau. Es geht um eine Frau. Darf das Männer nicht interessieren? „Die unglaubliche Grace Adams“ ist ein literarisches „Falling Down“ meets „Bridget Jones“. Unsere Protagonistin Grace ist Mitte vierzig. Sie lebt in Trennung von ihrem Mann. Ihre Tochter, die am Tag der Handlung (die Rahmenhandlung erstreckt sich nur über einen Tag) sechzehn wird, lebt bei ihrem Vater, denn die Mama wird gerade als einengend und übergriffig empfunden. Grace, die die Beziehung zu ihrer Tochter unbedingt kitten will, hat für sie eine „Love Island“ Torte in Auftrag gegeben. Diese Torte wird alles richten: Ihre Tochter wird erkennen, wie sehr Grace sie liebt, sie wird die Geste verstehen, beide werden sich in die Arme fallen und alles ist gut. Denkt zumindest Grace. In einer unglaublichen Kraftanstrengung möchte Grace also die Torte beim Konditor abholen und zu Lottes Geburtstagsparty bringen. Wie ein weiblicher Odysseus kommt sie aber ganz lange nicht an. Sie steht im Stau und lässt das Auto mitten auf der Straße stehen. Sie verläuft sich und findet sich auf einem Golfplatz wieder. Sie wird von Menschen, Autos und scheinbar höheren Mächten aufgehalten. Doch je mehr sich ihr in den Weg stellt, desto fester wird Graces Entschluss, diese Torte zu ihrer Tochter zu bringen. Koste es, was es wolle. Dazwischen erfahren wir, wie Grace ihren Mann Ben kennengelernt hat, wir erfahren von ihrer Zeit als Familie. Die beiden sind Linguisten, haben sich auf einem Linguistenwettbewerb kennengelernt. Als ihr kleiner gemeinsamer Ausrutscher in einer Schwangerschaft endet, raufen sie sich zusammen und heiraten. Trotz des ungewöhnlichen Starts dieser Beziehung erweist sich die kleine Familie als widerstandsfähig, als funktionierend. Warum es dann trotzdem zur Trennung kommt, enthüllt Littlewood erst im letzten Drittel der Geschichte. Die Stärke der Autorin sind definitiv ihre Figuren. Der Nukleus Grace/Lotte/Ben ist unglaublich gut gezeichnet, auch darüber hinaus auftretende Nebenfiguren haben Kontur. Littlewood lässt ihre Charaktere lustige und entsetzlich traurige Situationen erleben und gibt dem Leser so die Gelegenheit, diese Figuren von allen Seiten kennenzulernen. Und weil die Charakterisierungen so überzeugend sind und alle Figuren so lebensecht, macht es nichts, wenn die Handlung in einigen Momenten ins Unwahrscheinliche abdriftet. Fran Littlewood hat sich in ihrem Debut viel vorgenommen: Eine Romanze, die Geschichte einer Ehe und einer Trennung, die Gefühlswelten einer Frau in den Vierzigern, die ein Kind großgezogen und nun den Eindruck hat, ihre Karriere verpasst zu haben, und dazu noch Verlust und Trauer und trotzdem urkomische Situationen. Es wäre sicherlich besser gewesen, nicht ALLES in diesen Roman zu packen und sich auf einige statt alle Punkte zu konzentrieren. Dass „Die unglaubliche Grace Adams“ trotzdem funktioniert und auch noch überzeugt, liegt an dem großen Talent der Autorin. Man hat es hier nicht nur mit Figuren zu tun, denen man gern folgt, sondern die Handlung ist auch noch großartig geplottet und kreativ auf verschiedenen Zeitebenen ineinander verschachtelt. So enthüllen sich gewisse Geheimnisse erst mit der Zeit und entfalten dann eine umso größere Wirkung. „Die unglaubliche Grace Adams“ ist das Porträt einer Frau, die einen Zusammenbruch erleidet und durch das Tal einer Sinnkrise geht, die sich scheinbar verloren hat und sich jetzt neu zusammensetzen muss. Fran Littlewood beschreibt genau und liebevoll, ohne übermäßig psychologisierend oder gar pädagogisch zu klingen. Der Roman ist unterhaltsam, aber trotz des herrlich fröhlichen Covers ist er nicht nur ein Buch für den Strand. Hier werden ernste Fragen verhandelt, so wie im wahren Leben auch. Und die gehen Männer und Frauen an.

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