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anne_hahn

Posted on 17.5.2023

"Die Sonne glüht beinahe ununterbrochen auf die Stadt herunter und heizt alles auf hochsommerliche Temperaturen auf. Auf der Deribasovskaja-Straße herrscht trotz der jüngsten Ereignisse eine ausgelassene Stimmung. Touristen mit Selfiestangen, Kaffeeterrassen, die mittlerweile fast den gesamten Bürgersteig in Anspruch nehmen und die Odessiter in Rage versetzen, eine Schlange vor der französischen Konditorei, die vor einem Jahr aufgemacht hat und bereit sind jedem Reiseführer steht. Pferde, die weiße Kutschen hinter sich herziehen und mit ihren Hufen rhythmisch auf die Pflastersteine schlagen, Kinder, die an ihrem Eis lecken, sowie deren Großmütter mit einem Taschentuch in der Hand, immer bereit einzugreifen. Und die Sonne, die in jeden Winkel, jede Ecke dringt und gnadenlos die Frühlingsreste vertreibt. Ein idyllisches Bild, ein Bild, das jenes einer plötzlich besetzten Halbinsel, einer gespaltenen Gesellschaft überlagert, die gesamte Situation glättet, eine Normalität vortäuscht, die es vielleicht nicht mehr gibt." Die mit fünfzehn Jahren nach Deutschland emigrierte Autorin hat einen Roman über eine junge Frau geschrieben, die 2014 in Odessa im Familienclan ihres Großvaters lebt und Medizin studiert. Es ist Sommer in Odessa und Ich-Erzählerin Olga hat keinen Bock auf ihr Medizin-Studium. Der Familienpatriarch und seine schrägen Frauen (drei Töchter und vier Enkeltöchter) nerven sich gegenseitig. Da taucht ein nach Amerika ausgewanderter alter Freund des Großvaters auf und ein Geheimnis wird gelüftet, während Olga ihrer unerfüllten Jugendliebe hinterherhechelt und die Stadt sich zu spalten beginnt. Hinter der Schablone der aufkommenden Kriegs-Realität zeigt uns die Autorin ein liebevoll und vielfältig gezeichnetes Bild ihrer Heimatstadt, erzählt von Stränden, Datschen, Partys, Uni und Familientratsch. Doch es knirscht im Gefüge der Familien, der Gesellschaft, des Landes. Mir ist es am wertvollsten, durch Romane die Geschichte eines Konfliktes, einer Region erzählt zu bekommen. Riechen, tasten und schmecken zu können, wie sich Nationalismus einschleicht, Verunsicherung sich breit macht. Radikalisierung um sich greift. Als in der Stadt Proteste beginnen, interessiert sich sogar Olgas Freundin Mascha plötzlich dafür: "„Wir wollen in die EU, und wir werden dafür kämpfen, egal wie lange die Proteste andauern, egal wie viel Gewalt nötig ist“, höre ich sie sagen. Mascha ist Feuer und Flamme. So viel Engagement kenne ich bei ihr nur, wenn es um Jungs geht. Doch diesmal scheint es ihr ernst zu sein, und ich glaube ihr." Ein absolut empfehlenswerter Roman, der in reicher, schöner Sprache die Emanzipation einer jungen Frau erzählt. Und wie nebenbei die Wertigkeit der Geschlechter behandelt. Als Olga die Möglichkeit erwägt, dass es auch männliche Nachfahren ihres Großvaters geben könnte, fragt sie sich und uns: „Mein Leben erscheint mir plötzlich unwirklich, als eine Option unter mehreren – und nicht mehr als Resultat eines vorgezeichneten Plans von jemand anderem. Diese Wohnung hier und das Zusammenleben mit meiner Verwandtschaft – wäre das auch in einem anderen Leben möglich gewesen? Würde ich bei einem anderen Szenario auch Medizin studieren? Und unsere Mütter: Hätten sie ihr Privatleben ausleben dürfen? Bedarf es tatsächlich nur eines Y-Chromosoms, um alles buchstäblich auf den Kopf zu stellen?“

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