hyperventilea
Eine persönliche und gesellschaftliche Tragödie - schonungsloses Sittenbild einer modernen Gesellschaft Die beiden befreundeten österreichischen Ehepaare Binder und Strobl-Martinek verbringen einen gemeinsamen Urlaub in einem Ferienhaus mit Pool in der Toskana. Die vierzehnjährige Sophie-Luise, Tochter von Elisa Strobl-Martinek und ihrem Mann Oskar, wird von ihrer Schulfreundin Aayanna begleitet, die mit ihrer Familie aus Somalia geflüchtet ist. Aayanna kann nicht schwimmen und es kommt zu einem tragischen Unfall, der nicht nur Elisa, die für die Grünen im Landrat sitzt, zum Verhängnis wird. Daniel Glattauer nimmt als Erzähler mehrere Perspektiven ein, spielt mit der Sprache und schreibt auf ganz verschiedene Arten, mal sachlich, mal persönlich, mal ironisch, analysiert aber immer messerscharf. So formuliert der Autor beispielsweise Zeitungsberichte, Interviews oder Leserkommentare aus dem Internet, gibt Dialoge vor Gericht wieder oder schildert, was Sophie-Luise oder Elise erleben, teilweise liest sich das durch den bewussten Gebrauch des Präsens wie ein Drehbuch. Dem Autor gelingt es beeindruckend präzise, seine Sprache der jeweiligen Textform anzupassen. Die Figurenkonstellation ist so abwechslungsreich wie Glattauers Sprache. Da sind zunächst die Mitglieder der privilegierten Familien Binder und Martinek, allen voran natürlich Elisa Strobl-Martinek die ihren Lebenssinn in einer politischen Karriere sucht, hohe Ansprüche an sich selbst und ihre Außenwirkung hat und der ihr eigener Ruf und geliebt zu werden viel wichtiger ist als Wahrheit und Moral. Tochter Sophie-Luise bewegt sich bevorzugt in digitalen Sphären und flüchtet immer mehr aus der Realität, denn in der „echten“ Welt fühlt sie sich doch nur alleine und unverstanden. Die dargestellten Beziehungen zwischen den österreichischen Protagonisten scheinen allesamt kompliziert und konfliktbehaftet, obwohl es den Charakteren in materieller Hinsicht an nichts mangelt. Sehr interessante, wenn auch etwas überzeichnete Figuren sind die beiden Anwälte Johann Wilenitsch und Oliver Steinpichler, die gegensätzlicher in ihrem Auftreten nicht sein könnten. Und dann gibt es natürlich noch die somalische Flüchtingsfamilie Hussien Ahmed deren Problem im Vergleich zu den der österreichischen Ehepaare wirklich existenziell und echt sind, die aber selbst kaum zu Wort kommen. Meisterhaft bringt Daniel Glattauer auf den Punkt, wie eine verkommene, dekadente Gesellschaft mit einer realen, erschütternden Tragödie umgeht. Die im Buch dargestellten Reaktionen sprechen Bände. Da strotzen die Kommentare aus dem Internet vor Empörung, einfach um der Empörung Willen, während die eigentlichen Opfer in den Hintergrund geraten. Es geht nicht um die Tragödie selbst, denn die Menschen, die wirklich darunter leiden, sind ja fremd: „Die spürst du nicht“, sondern darum, feststehende Meinungen zu äußern und damit Recht zu behalten. Scheinheiligkeit, Doppelmoral oder Gutmenschentum, das sich rasch als Lüge entpuppt, zeichnen so manche dargestellte Reaktionen auf die Katastrophe aus. Viele, die zu Wort kommen, interessieren sich dabei nur für die eigene Wahrheit und Interpretation, ohne über den Tellerrand zu blicken. Am Ende glimmt dennoch ein kleiner Hoffnungsschimmer auf. Für mich ein lesenswerter, schonungsloser, oft nachdenklich und beschämend stimmender Roman, der den Fokus auf diejenigen richtet, die zu oft übersehen werden.