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Buchdoktor

Posted on 1.5.2023

Paulys Eltern waren Journalisten und Umweltaktivisten. Erst Jahre später wird deutlich, wie akribisch seine Mutter Francesca die Zuflucht ihres einzigen Kindes nach einer globalen Umweltkatastrophe geplant hatte. Das High House auf einer Kiesbank in der Flussmündung, fernab von anderen Menschen gelegen, war völlig autark, vorausgesetzt, seine Bewohner hatten gelernt mit Wassermühle, Trinkwasserbrunnen und Kohleherd umzugehen. Der drohende Weltuntergang war schon immer Francescas Thema gewesen. Sie konnte sich darüber aufregen, dass andere Menschen in den Tag hinein lebten, während sie unermüdlich um die Welt reiste, um deren Bewohner in letzter Minute noch aufzurütteln. Als Paulys ältere Halbschwester Caroline die Verantwortung für ihren Bruder übernimmt und mit ihm ins High House flüchtet, beginnt für sie ein neues Leben, als wären die Geschwister außer Sally und ihrem Grandy auf der Landzunge die einzigen Menschen. Präzise entsteht das Bild eines großzügigen Anwesens am Meer mit Obst- und Gemüsegarten, Wäldchen, Gezeitentümpeln am Strand und einem funktionierenden Haushalt. Sallys Großvater Grandy, der schon immer eine Art Hausmeister für das gesamte Dorf war, hat seinen drei Schülern alle Fertigkeiten beigebracht, die in dem düsteren Haus gebraucht werden. 20 Jahre später besteht das Leben allein aus der Suche Nach Nahrung und Wärme. Rückblickend wird deutlich, dass die Menschen ihre letzte Chance nicht genutzt hatten und Paulys Eltern sich und ihr privates Glück damals vergeblich opferten. Die dystopische Geschichte einer verdrängten Klimakrise wird auf mehreren überlappenden Zeit- und Wissensebenen von drei Icherzählern entfaltet. Wie in Dystopien nicht ungewöhnlich, ließ mich die kleine Zwangsgemeinschaft darüber rätseln, wie realistisch Paulys Überleben auf die Dauer sein wird – ohne das Wissen des lebensklugen Grandy. Berührt hat mich besonders Paulys Sichtweise, der sich viel selbst erschließen muss, weil er an die Welt vor der Apokalypse nur wenig Erinnerungen hat. Sally Greengrass‘ präziser Strich lässt unvergessliche Bilder entstehen. Ihr Blick in die Innenwelt einer Kleinfamilie vor der Folie einer gesichtslosen Außenwelt zeigt Empathie und psychologisches Geschick. Völlig anders als in ihrem spröde wirkenden „Was wir voneinander wissen“ habe ich mit diesen Figuren mitgefühlt und -gelitten. Neben der dystopischen Ebene geht es auf der Beziehungsebene um Mutterschaft, soziale Elternschaft, die Geschwisterbeziehung, sowie den gesellschaftlichen Graben zwischen Besitzenden, Wissenden und „den Anderen“. Ein großartiger Roman.

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