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Buchdoktor

Posted on 26.4.2023

Als Ewald Frie die Biografie seiner Familie und des Hofs Horst Nr 17 bei bei Nottuln im katholischen Münsterland verfasst, geht er davon aus, dass die Leistung seines Vater als erfolgreicher Züchter rotbunten Milchviehs für ihn als Historiker umfassend dokumentiert ist, nicht jedoch das Leben seiner Mutter. Am Ende seiner spannend zu lesenden Dokumentation eines Bauernlebens könnten seine Leser:innen das anders sehen. Die Eltern heirateten 1943 (Vater *1910, Mutter *1922), die jüngste Tochter wurde 1969 geboren. Ähnlich wie die Kinder der Fries in kleinen Gruppen verantwortlich Arbeiten auf dem Hof übernahmen, teilt Frie seine zehn Geschwister in drei Altersgruppen ein: die vier in den 40ern geborenen Ältesten erzählen das Leben des Vaters, die drei in den 50ern Geborenen das Leben der Mutter und die Jüngsten, Kinder der 60er, vermitteln die Umbrüche ihres Jahrzehnts, die so manchen Lesern Fries vermutlich noch in Erinnerung sein werden. Aus der Distanz strukturierter Interviews entsteht so das Bild eines besonderen Familienbetriebs, der 1880 noch 28 Bedienstete beschäftigte, die mit den Fries unter einem Dach lebten. Ungewöhnlich war neben der Zahl lebender Kinder u. a. die Religiosität der Familie, die abgelegene Lage des Hofes und dass Ewald Fries Mutter sofort nach ihrer Heirat die Organisation des Haushalts übernahm, ohne sich unter dem Regime ihrer Schwiegermutter hochdienen zu müssen. Die älteren Söhne erzählen ungeschminkt von der Plackerei, mit dem Vater gemeinsam zu arbeiten und klagen über die Knauserigkeit der Nachkriegsgeneration, während die Töchter über die Versorgung kleinerer Geschwister stöhnen und dagegen an schuften, dass Frauen für weniger Wert gehalten werden. Die Töchter berichten von der Ermunterung ihrer Mutter, unbedingt einen Beruf zu lernen, damit sie nicht wie andere Bauerntöchter „zuhause sitzen und auf einen Ehemann warten“ müssten. In den Biografien aller Kinder ist die Unterstützung ihres Bildungshungers zu verfolgen. Bildung erforderte in den 50ern in einer Zeit ohne Schulbusse neben der Erlaubnis der Eltern ein Fahrrad, um überhaupt in den nächsten Ort mit Höherer Schule zu gelangen. Das in vielen Bauernfamilien konfliktgeladene Kapitel Hofübergabe erfolgt in den 70ern im Licht von Bafög, Kindergeld und Altersgeld, die die Verpflichtung des Erben ablösten, Eltern und evtl. ledige Geschwister auf dem Hof mit zu versorgen. Ewald Lie und seine Geschwister waren in vielem die Letzten ihrer Art (…die andere Bauernkinder heirateten, … die noch schwer körperlich arbeiteten), zugleich auch die Ersten in der Familie mit höherer Bildung und Berufen außerhalb der Landwirtschaft. Vor dem Hintergrund eines rasanten Strukturwandels hin zur Spezialisierung und zum Ein-Ehepaar-Betrieb hat mich besonders die Weitsicht der Mutter beeindruckt, alle Kinder auf nicht immer geraden Berufswegen stets zu ermuntern. Auch wenn sie keine Urkunden hinterlässt, eine beachtliche Lebensleistung. Gemessen an der enthaltenen Menge an Fakten, Zahlen und Quellen lässt sich Edward Fries Familien- und Sozialgeschichte erstaunlich flott weglesen.

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