wandanoir
Kurzmeinung: Eine sehr angenehme Lektüre, da die Autorin eine Erzählerin alter Schule ist. Obsession Mutter Patriarchalische Strukturen und übergroße Gastfreundschaft gehen in dem erzählten Indien Shrees Hand in Hand. Die Frauen machen die Arbeit, die Männer arbeiten zwar „draußen“ in der Welt auch und sorgen für den finanziellen Rahmen, aber zuhause lassen sie sich bedienen wie Paschas. Trotzdem haben auch die Frauen, wenn sie geschickt sind, ihre Freiräume und wissen, sie zu nutzen. Und wenn jeder seine Rolle ausfüllt ohne zu Jammern und zu Klagen existiert Familie als konfliktfreie Zone. Die Geschwister Suna und Suboth wachsen in einer patriarchalischen traditionellen indischen Großfamilie der Oberklasse auf und genießen eine behütete Kindheit. Die Großeltern sind noch ganz im alten Kastendenken verankert und eigentlich Großgrundbesitzer, obwohl sie aus ideologischen Gründen das Eigentum an Grund und Boden aufgegeben haben und nur noch Nutznießer dessen sind. Die Elterngeneration ist schon etwas lockerer, aber vor allem Frauen werden in ihren Möglichkeiten noch immer, genau wie „ganz früher“ beschränkt und haben keinerlei gesellschaftliche Außenwirkung. Ihre Rolle ist eine dienende. Mitspracherechte gibt es keine. Die Geschwister Suna und Suboth müssen sich im schwierigen Stadium der beginnenden Moderne zurechtfinden, obwohl ihre Wurzeln tief in der autoritären Tradition haften. Tiefer als es ihnen lieb ist und tiefer als es ihnen immer bewusst ist. Suna erzählt im Rückblick von ihrer Mutter und dem Leben „damals“, als alles noch intakt war und dennoch so unvollkommen schien. Es überkommt sie Melancholie und Heimweh, wenn sie schildert, wie der gesamte Haushalt sich um die Zubereitung von indischem Essen drehte, sie fühlt sich schuldig, wenn sie an den Überfluss denkt, der herrschte und den sie als Kind nicht zu würdigen wusste. Und sie ist von Schuldgefühlen geplagt, weil sie ihre Mutter nur an Äußerlichkeiten festmachte und ihr inneres Wesen nicht erkannte. Der Kommentar: Greetanjali Shree erzählt uns, dass ein „Mutterkomplex“ kein allein europäisches Ding ist. An Müttern arbeiten Töchter sich ab. Söhne auch, aber anders. Egal wo, egal in welcher Gesellschaftsstruktur, eben auch in patriarchalischen, ist das Mutterbild problematisch. Wie sollte es anders sein? Man muss sich abnabeln und will sich gleichzeitig solidarisch zeigen oder sich sogar identifizieren. In dieser Gemengelage muss es zwangsläufig zu inneren Konflikten kommen. Es geht gar nicht anders. Und wenn die Töchter erwachsen sind und die Mutter womöglich nicht mehr lebt, entdecken die Töchter, dass ihre Mutter in ihrem Innern überlebt hat. Das merkt auch Suna. Es ist sowohl der ganz normale Generationenkonflikt wie auch die alles verändernde Moderne, die auch vor Indien nicht Halt macht, zart in Shrees Roman eingebettet. Die Sprache Shrees ist wie ein ruhiger Fluss, entspannend, fließend, niemals langweilig. Phrasenlos. „Mai“ ist auch eine Hommage an eine behütete Kindheit, an eine perfekte Zeit, wie es die Kindheit eigentlich immer sein sollte, diese Perfektion bekommt naturgemäss Risse, je erwachsener man wird: Man hinterfragt Autorität, Schicksal und Gegebenheit. Im besten Falle wird man politisch. Soweit aber gehen bei Shree die Protagonisten nicht, sie bleiben im Privaten. Dass wir ganz im Privaten bleiben und uns manchmal sogar im Symbolischen verlieren, ist das Einzige, was ich dem Roman wirklich vorwerfen könnte. Gegen Ende hin wird Shree unkonkreter und wechselt vom praktischen Erzählen ins Schein-Philosophische; die konkrete Erzählung löst sich in Trauerarbeit auf. Fazit: „Mai“ ist Erzählung einer typischen Kindheit im traditionellen Indien auf der Schwelle zur Moderne. Es ist auch die Erzählung von einer Mutterobsession; faszinierend, weil in einer fremden Kultur dennoch ganz ähnliche Probleme stecken wie überall in der Welt. Es ist auch eine, in Ansätzen, Auseinandersetzung mit der Rolle der Frau in der indischen Gesellschaft. Insgesamt habe ich diese Erzählung wirklich gerne gehabt. Kategorie: Erzählung. Unionsverlag, 2023/Erstausgabe 1993.