Yvonne Franke
Das Lesen fremder Tagebücher ist eine gefährliche Sache. Selbst, wenn man sich die Lektüre nicht erschlichen hat. Man steigt unverschämt tief in jemandes intime Gedanken und Sorgen ein, teilt das Glück und den Ärger. Die fehlende Distanz zum Privaten erzeugt ein tiefes Verständnis, das sich, wenn man nicht aufpasst, anfühlt wie eine seltsame Form von Freundschaft. Liest man die Tagebücher Manfred Krugs, geht bereits auf Seite 1 jede Vorsicht flöten. Man verfällt ihm vollkommen wehrlos. Der brillante Erzähler (Und wem erzählt er da – sich? Mir? Uns allen?) macht jede noch so kleine Begebenheit zu einem Erlebnis. Seine Deutungen des Geschehens, seine Gedankensprünge und Assoziationen sind so ungewöhnlich und überraschend, dass das Entzücken prustend aus einem herausbricht. Bitte beim Lesen keine heißen Getränke konsumieren. Das geht schief. Diese zweite Teilveröffentlichung seiner späten Tagebücher umfasst die Jahre 1998 und '99. Krug berappelt sich nach einem Schlaganfall, äußerlich scheint wieder alles in Ordnung. Er dreht ohne Unterlass die berühmten Tatorte an der Seite von Charles Brauer und Werbespots für die Telekom. Beides ärgert ihn. Niemand scheint mehr schreiben zu können, immer muss er selbst in die Texte eingreifen. Diese Schonungslosigkeit der schreibenden Zunft gegenüber, ahnt man bald, ist dicht verknüpft mit Krugs anhaltender Trauer um seinen besten Freund, den Autor Jurek Becker. Ohne ihn ist alles Schmuh. Krug strebt in großen Schritten dem eigenen körperlichen Verfall entgegen. Viel zu früh, er ist Anfang 60. Und er kann es nicht wissen, aber er wird noch viele Jahre leben. Fast aus Versehen, denn eigentlich leidet er doch, besieht er die Welt mit großem Humor und reagiert mit jungenhafter Schlagfertigkeit auf sie. Er rührt sich mit der eigenen Zartheit und haut dabei ordentlich mit der Faust auf den Tisch. Diese Ambivalenzen sind herausfordernd und entzückend. Manchmal hält man die Luft an, wie beim Betrachten eines gefährlichen Zirkustricks. Man will jede dritte Seite auswendig lernen, damit man seinen Charme in die Welt hinaustragen kann, wo er hingehört. "Wer hätte damals gedacht, dass das alles so kurze Zeit dauern würde, um so lange her zu sein?"