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seeker7

Posted on 19.4.2023

Der in Utrecht lehrende Philosophie-Ethiker Hanno SAUER hat ohne Zweifel einen großen Wurf gewagt: Er ist angetreten, nicht weniger als die komplette Moralgeschichte der Menschheit darzustellen – und zwar von den allerersten Anfängen bis in die pralle Gegenwart. An einem solchen gigantischen Projekt (sicherlich SAUERs professorales Lebenswerk) kann man sich beweisen – oder auch scheitern… SAUER liebt offenbar die Zahl 5 – denn er gliedert die Historie in entsprechende Entwicklungsetappen (5 000 000, 500 000, 50 000; … Jahre). Wer sich auf solche zeitlichen Dimensionen einlässt, kommt wohl nicht umhin, zusammen mit der Moralentwicklung gleich eine ziemlich umfassende Gesamtdarstellung menschlicher Kulturgeschichte zu liefern. Und da Kultur nicht loszulösen ist von den konkreten evolutionär-biologischen, klimatischen, geografischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bedingungen, erhalten wir mit diesem Buch gleich einen kompletten Geschichtslehrgang dazu. Dieser lässt sich wohl am ehesten mit dem Ansatz vergleichen, den HARARI in seinem Welterfolg („Eine kurze Geschichte der Menschheit“) verfolgt hat: Beide betrachten nicht politische oder militärische Verläufe, sondern die großen und grundlegenden Entwicklungslinien des kulturellen Siegeszugs der Gattung Mensch (seltsamer Weise nimmt SAUER keinen expliziten Bezug auf HARARI). In den einzelnen Epochen untersucht der Autor mit großer Sorgfalt, warum welche moralischen Regeln entstanden sind bzw. sich ausbreiten und etablieren konnten. Konkret stellt sich dabei immer die Frage, warum ein (biologisch weitgehend vorgeprägter) gebändigter Egoismus (oder sogar Altruismus) einen evolutionären Überlebenswert aufwies und welche Rolle später die kulturelle Evolution bei der Entwicklung komplexerer Moralsysteme eingenommen hat. Wir werden im Laufe dieser historischen Entdeckungsreise mit einer Reihe von spannenden Perspektiven konfrontiert, die nicht unbedingt als Allgemeinwissen betrachtet werden könnte: Wem ist z.B. der Gedanke vertraut, dass die frühen Menschen offenbar dadurch eine Art systematische Selbst-Domestizierung betrieben haben, in dem sie besonders aggressive und unkooperative Gruppenmitglieder schlicht töteten? Aus Sicht von SAUER gibt es einen sehr grundsätzlichen Paradigmenwechsel in der Moralentwicklung: Evolutionär programmiert sind wir nämlich eindeutig darauf, dass wir unsere altruistischen Seiten nur für eine kleine Gruppe von Verwandten oder Stammesmitglieder mobilisieren können. Hunderttausende von Jahren war die empathische Fürsorge für die eigene Gruppe unlösbar mit der eindeutigen Ablehnung und Feindschaft gegenüber den „Anderen“ verbunden. Eine Kooperation über diese überschaubaren persönlichen Kreise hinaus ist eine Errungenschaft, die bis heute massive kulturelle und emotionale Energie kostet. Es wird deutlich, dass SAUER eher erstaunt ist, dass es dem Menschen überhaupt gelungen ist, Solidarität und Verantwortung über die eigene Gruppe hinaus zu entwickeln. Nur so konnten allerdings komplexe und arbeitsteilige Sozialstrukturen entstehen, die dann schließlich in den letzten paar Hundert Jahren die moderne Welt ermöglichte. Wie der Umgang mit aktuellen Herausforderungen zeigt, ist diese moralische Schwelle – die inzwischen auch die Verantwortung für zukünftige Generationen umfassen müsste noch längst nicht von allen Menschen erreicht. SAUER nähert sich dem komplexen Thema „Moral“ nicht nur von der historischen Seite: Sein Spektrum reicht von der Darstellung philosophischer Grundpositionen bis zur modernen sozialpsychologischen Forschung bzw. Verhaltensökonomie (mit ihren spieltheoretischen Experimenten über Egoismus und Kooperation). auch mit der Frage, ob es allgemeingültige „Moralische Wahrheiten“ gibt, setzt sich der Autor auseinander. Kommen wir vom Inhalt zur Form – die ich als mein persönliches Leseerlebnis darstellen möchte: In der ersten Hälfte des Buches breitete sich so etwas wie eine Begeisterung aus für die Vielfalt der Perspektiven und die didaktische Klarheit der Darstellung. Ich fühlte mich sicher geführt durch einen Experten, der mich durch ein unwegsames Gelände manövrierte. Je näher mich SAUER an die Gegenwart führte, desto stärker war eine Tendenz spürbar, die sich von einer neutral-sachlichen Darstellung hin zu einem – ich formuliere es mal deutlich- subjektiv gefärbten Stil entwickelte, um dann bei moralischen Gegenwartsfragen gelegentlich in ein Schwadronieren umzukippen. Mir waren letztendlich einige Erläuterungen und Stellungnahmen zu selbstgewiss bzw. selbstverliebt und zu apodiktisch – so als hätte der Autor auf alle aktuellen Konfliktpunkte die eine richtige Antwort im Köcher. Eine weitere Kritik betrifft die Lust des Professors an eloquenten Formulierungen. Bei allem Verständnis für eine Hochsprache, die sich an ein wissenschaftlich interessiertes und vorgebildetes Publikum richtet: SAUER haut am laufenden Meter Sätze heraus, in denen das eine Fremdwort zu viel (also das vierte oder fünfte) aus einem perfekt formulierten Satz eine selbstdarstellerische Zumutung macht. Schade – das hat so eine Koryphäe ganz sicher nicht nötig. Damit kein Missverständnis entsteht: Selbst mit diesen kleinen Mängeln (wenn man sie überhaupt als solche empfindet), ist dieses 5-Sterne-Buch noch mindestens ein 4-Sterne-Buch und jedem Leser/jeder Leserin zu empfehlen, der/die moralischen Herausforderungen der Gegenwart einmal auf dem gut ausgeleuchteten Hintergrund der Menschheitsgeschichte betrachten möchte.

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