Yvonne Franke
Virginie Despentes hat wieder zugeschlagen. Die Autorin der Vernon Subutex Romane ist auch deshalb eine der wirkungsvollsten literarischen Stimmen Frankreichs, weil sie Vorurteile und Klichees ernst nimmt, sie fast wissenschaftlich untersucht und so besonders gründlich zum Einsturz bringt. In Despentes neuem Roman "Liebes Arschloch" entpuppt sich diese Fähigkeit als besonders nützlich. Kapitel für Kapitel entwächst man, gemeinsam mit den Figuren, allen billigen Ausreden. Die billigsten Ausreden hat Oscar. Wir haben sie alle schon tausend Mal gehört. Der erfolgreiche Schriftsteller ist in einen ausgewachsenen #MeToo Skandal "hineingeraten". Er weiß natürlich nicht, wie ihm geschieht. Schließlich ist er sicher kein Frauenheld, dafür viel zu unscheinbar, und diese Zoe, die dummerweise eine große Online-Präsenz hat, die mochte er doch wirklich und hat sie nie zu etwas gezwungen. Das bildet sie sich ein. Oscar schlägt wild um sich. Setzt noch eins oben drauf und beleidigt und beschimpft öffentlich den alternden Filmstar Rebecca. Die jedoch sucht sofort die Konfrontation. Sie schreibt ihm, zeigt ihm Schmerz und Wut. Ein zunächst toxisch wirkender Briefwechsel nimmt bald vertrautere und vor allem schonungslos ehrliche Züge an. Die beiden haben keinen Grund, den Selbstbetrug des Gegenübers durchzuwinken. Wenn du dir unsicher bist, ob du betrunken nicht vielleicht doch ein Arschloch warst, dann hör erstmal auf zu saufen. Drogen, der Rausch mit welchem Mittel auch immer, ist ein Lebensthema für beide. Während Rebecca glaubt, wie geschaffen zu sein für Drogen aller Art, nicht einmal Heroin hat ihr je geschadet, beginnt bei Oscar langsam die Läuterung. Dann plötzlich steht die Welt still. Der erste Lockdown wird ausgerufen. Die Extremsituationen ballen sich. Die neue Nüchternheit, der Entzug, die Angst vor der Pandemie, das Cybermobbing – Despentes hat Umstände geschaffen (nun ja, der Welt entnommen), in denen sich ein Mensch nicht verstecken kann, nicht einmal vor sich selbst. Die Autorin steigt in diese verhärteten Charaktere ein und wühlt sich durch all die Schichten von Bullshit, die sich in Jahrzehnten des einfach überleben Wollens angesammelt haben. Oscar und Rebecca, die es gewohnt waren, sich wegzuballern, um nichts mehr zu spüren, kommen ihrem Kern als Mensch sehr nah. Und der passt in die Welt. "... ich habe den Eindruck, dass das Leben mir etwas mitteilen will, mir Zeichen gibt. Es zeigt mir eine Welt, die dem ähnelt, was ich empfinde – in der Bredouille, ramponiert, ohne klare Richtung. Frei drehend."