letterrausch
Wie so viele meiner Generation bin ich mit der Serie „Anne auf Green Gables“ aufgewachsen, die 1986 zum ersten Mal im ZDF lief. Ich habe mit der melodramatischen, aber grundehrlichen Anne mitgefiebert, als sie sich die feuerroten Haare versehentlich grün färbte oder als sie (romantisch leicht verfehlt) drohte, mit einem lecken Kahn unterzugehen. Die zuckrig-heile Welt von Green Gables, die vielen liebenswerten Figuren, die diese Welt bevölkern und die kleinen Problemchen, die sie zu lösen haben, sind Eskapismus der herrlichsten Sorte. Noch heute denke ich mit nostalgischem Seufzen an diese wohligen Fernsehstunden zurück. Und obwohl ich ganz viele Kinder(buch)klassiker auf dem Fernsehschirm genossen und geliebt habe, habe ich – eventuell auch, weil ich aus der DDR stamme – vieles davon tatsächlich nur gesehen, aber nicht gelesen. Der Michel aus Lönneberga? Nein. Der kleine Vampir? Nüscht. Momo? Keine Chance. Und das gleiche gilt für L.M. Montgomerys Kinderbuchklassiker „Anne auf Green Gables“ - nie gelesen. Das als Erwachsene nachzuholen, ist durchaus mit Risiken behaftet. Was, wenn so ein Buch die Zeit nicht gut überstanden, eben nicht gut gealtert ist? Was, wenn man selbst über das Buch hinausgewachsen ist und einfach nichts mehr an der Handlung und den Charakteren finden kann? Dann ist die Nostalgie der Geschichte aus der Kindheit auf immer dahin. Zum Glück ist mir das bei „Anne auf Green Gables“ nicht passiert. Ich habe hin und her überlegt, ob ich das Risiko einer literarischen Enttäuschung eingehen will, doch letztlich war die Versuchung so groß, dass ich das von Eva Matthes (!) fantastisch eingelesene Hörbuch ganz einfach haben musste. Und es war durch und durch ein Genuss! Wer bei „Anne auf Green Gables“ überhaupt nicht weiß, worum es geht: Ein altjungferliches Geschwisterpaar (Marilla und Matthew) betreibt eine kleine Farm auf Prince Edward Island. Die beiden scheinen um die sechzig zu sein, als Matthew beschließt, dass es eine gute Idee wäre, einen Jungen zu adoptieren, der ihm bei der Arbeit auf der Farm zur Hand geht. Aus plottechnischen Gründen landet allerdings kein Junge bei den beiden, sondern ein rothaariges, endlos plapperndes und mit viel zu viel Fantasie ausgestattetes Mädchen. Nachdem Marilla und Matthew die kleine Anne erst ins Waisenhaus zurückschicken wollen, kann diese sich jedoch schnell in die Herzen der beiden stehlen. Und so bleibt Anne, wächst auf der Farm auf, muss viele Missgeschicke überstehen, findet eine beste Freundin (und einen besten Feind). „Anne auf Green Gables“ ist ein Kinderbuchklassiker, 1908 erstveröffentlicht. Sicherlich will auch die Autorin L.M. Montgomery pädagogisch auf ihre Zielgruppe einwirken – so entwickelt sich die (weil tagträumende) vergessliche Anne irgendwann zu einer zielstrebigen und zuverlässigen jungen Frau –, doch der erhobene Zeigefinger erschlägt hier nie die Geschichte. Klar, Anne macht eine Entwicklung durch – das sollte sie auch, sie wird schließlich im Verlauf des Buchs erwachsen –, aber sie bleibt sich gleichzeitig immer treu. Auch gegen Ende der Geschichte kann sie noch wie ein Wasserfall erzählen, hat sie noch eine Ader für das Romantische und Melodramatische. Aber sie ist gereift – das ist nicht unbedingt die schlechteste Erkenntnis, die man Kindern mit auf den Weg geben kann. Heute würde man ein Buch wie „Anne auf Green Gables“ vielleicht mit „low stakes“ beschreiben. Gegen Ende der Geschichte tröpfelt immer mehr Realismus in die Erzählung hinein (eine Bankenpleite, ein Tod). Bis dahin jedoch ist das größte Problem, dass Mäuse den Pudding gefressen haben oder Anne plötzlich grüne Haare hat. Wie schön ist es doch, so etwas zu lesen, wenn man sich selbst überall von Problemen umzingelt fühlt! Auf Green Gables ist jedes Problem lösbar, jede Hürde bezwingbar. Man schaut aus dem Turmzimmer und Apfelbäume blühen und das Leben ist schön und der zukünftige Lebensweg breitet sich geradlinig vor einem aus. Mir hat das Hörbuch immer und immer wieder ein Lächeln aufs Gesicht gezaubert. Gern habe ich mich an die einzelnen Episoden der alten Serie mit der unvergesslichen Megan Follows in der Titelrolle erinnert und beim Fortschreiten der Geschichte immer mehr Lust bekommen, sie noch einmal anzusehen. „Anne auf Green Gables“ ist gut gealtert. Trotz des sehr ländlichen Settings, der vielen Tiere und Pferdekutschen und den Kirchensonntagen, die für viele Kinder heute wohl nicht mehr zur täglichen Realität gehören werden, kommt die Geschichte über das rothaarige Waisenkind sehr zeitlos daher. Hätte ich ein Kind, hätte ich überhaupt kein Problem damit, ihm diese Geschichte vorzulesen. Die Werte, die hier abseits der Geschichte vermittelt werden wollen, sind auch heute noch nicht obsolet. Und wem als Erwachsenen der Sinn nach etwas literarischem Eskapismus steht, der ist hier gut aufgehoben. „Anne auf Green Gables“ ist Entschleunigung pur. Viel Spaß!