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stefanie aus frei

Posted on 31.10.2018

Verunsichert und durch alle Betten „Vernon war von zwanzig bis fünfundvierzig Plattenverkäufer gewesen. Auf seinem Gebiet waren Stellenangebote noch seltener, als wenn er im Kohlebergbau gearbeitet hätte.“ S. 8. Das Internet hat seine Einkommensbasis ausgelöscht. Ein wenig hält er sich noch über Wasser mit dem ebay-Verkauf von Platten und dadurch, dass sein alter Kumpel Alex Bleach ihm die Miete bezahlt. Nach Alex‘ Tod verliert Vernon die Wohnung. Vernon schlief sich früher durch die Betten aller Frauen, jetzt schläft er sich durch Klappcouches, Gästebetten, die Betten einsamer Frauen, kommt bei Freunden unter, Freunden von Freunden, couchsurfing in Paris. „Wenn du über vierzig bist, duldet dich Paris in seinen Mauern nur noch als Eigentümerkind, der Rest der Bevölkerung setzt seinen Weg anderswo fort.“ S. 17 Kein Buch für Personen, die empfindlich hinsichtlich der Sprachwahl sind: es taucht wohl jede Bezeichnung für Geschlechtsorgane und Geschlechtsverkehr auf, für Drogen und Drogenkonsum. Nur einiges ist eher harmlos: „Männer ihres Alters stoßen sie ab, ihre Eier hängen herunter wie sklerotische Schildkrötenköpfe.“ S. 54 (Emilie). Wollte ich darüber nachdenken? Das Buch ist der erste Band einer Trilogie über Vernon Subutex, hätte aber genausogut „Alex Bleach“ im Titel haben können, den unter Drogeneinfluss ertrunkenen Freund, den natürlich auch die Freunde kannten, bei denen Vernon unterkommt, ehemalige Bandmitglieder, ehemalige Geliebte, Branchenkontakte, Kokser, Rechte, Transsexuelle, Enttäuschte. Die Geschichten reihen sich aneinander wie in einem Episodenroman mit Vernon und Alex als Bindeglieder – und mit den Bandaufnahmen von Alex, deren Existenz Begehrlichkeiten weckt. Somit ist das dann eine Geschichte (die Suche nach den Bändern) in Geschichten (von Vernon und Alex) in vielen Einzelgeschichten (von Xavier, Emilie, Céleste, Laurent Dopalet, Sylvie, Lydia Bazooka,…..), die alle auch wieder Berührungspunkte haben. Sprachlich gibt es einiges – teils mit viel Vulgarismen, dann wieder poetisch „Jede Erinnerung ist vermint. Eine Decke, die er sorgfältig über der Angst ausgebreitet hatte, rutscht weg – sie berührt die Haut.“ S. 91 Das Thema, dass nur die Kinder (und Schwiegerkinder) reicher Eltern sich das Leben in Paris leisten können, zieht sich durch’s ganze Buch und langweilte mich dadurch etwas (da bekommt wirklich kaum jemand sein Leben aus eigener Kraft hin, vielleicht noch Alex, der sich aber für seinen Reichtum schämte, oder die Hyäne, von Beruf Internet-Troll). Häufig fand ich überraschend treffsichere Bemerkungen, wie zu Sélim: „Die Französische Republik hatte ihm vorgegaukelt, wenn er sich ihre universelle Kultur zu eigen machte, würde sie ihn wie all ihre Kinder mit offenen Armen aufnehmen. … Aber auch mit Hochschuldiplom sind die Araber die Kanaken der Republik geblieben… .“ S. 257 Das wirkt nicht spezifisch französisch, höchstens in den speziellen Institutionen, Filmen, Moden; es gibt seeeeehr viel name dropping, ich schwöre, in fünf Jahren kann das selbst ein Franzose nur mit Mühe alles zuordnen. Die Perspektive wechselt fortwährend zwischen Vernon und seinen Gastgebern, dabei wiederholt sich das Motiv, dass zwei Personen (gerne ein Paar) ein und dieselbe Situation durchaus unterschiedlich erleben können. Über Paarbeziehungen kommt da nichts Positives heraus. Am meisten beeindruckt hat mich der Abschnitt mit Patrice: eine Frau schreibt so über einen Mann, der seine Frau verprügelt, dass er mir überraschend und gegen meinen Willen sympathisch wurde. Insgesamt bin ich mir nicht so sicher, um was es im Buch geht, in Paris kann man nur als reicher Erbe leben und selbst das gibt keine Sicherheit? Das Ende (nicht der Schluss) ist eine Frechheit. Schreibstil und Inhalt wechseln gut mit sinnentleert. Ich habe hier Band 2 stehen. 3 Sterne.

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