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gwyn

Posted on 10.4.2023

Der Anfang: «Meine Mutter passt in keinen Sarg. Sie ist zu dick, sagt sie. Nach ihrem Tod soll die Asche nicht in einer Urne auf-bewahrt werden, sondern einfach über das offene Wasser zerstreut. ... Wir sprechen viel über den Tod. Eigentlich spricht nur sie davon. Es ist ihr Gewicht, das ihr zu schaffen macht, und das, obwohl sie keines der klassischen Leiden hat, die Ärzte dicken Menschen unbesehen attestieren. Ihre Schmerzen sitzen in den Muskeln, den Gelenken. Ich kann über vieles mit meiner Mutter reden. Über fast alles eigentlich. Das Einzige, woran wir nie rühren, ist die Frage nach dem Geld. ... ‹Alle glücklichen Familien ...›, hebe ich an, doch da dreht meine Mutter bereits den schönen Kopf beiseite. ‹Ach was. Unglück.›» Der Titel könnte auch lauten: Mein Vater, der Lügner – oder: Szenen einer Ehe – oder: Mein Vater, das Miststück. Daniela Dröscher erzählt ihre Familiengeschichte, die Geschichte ihrer Mutter, deren Leben von einem Thema dominiert wurde: ihr Körpergewicht. Diese schöne Frau zu fett! So jedenfalls kommentiert es der Vater. Gib uns unser täglich Wort, die tägliche Demütigung der Ehefrau: Du bist zu dick, zu fett, ich kann dich nicht vorzeigen, ich muss mich für dich schämen, das geht so nicht weiter! – so der Vater unermüdlich tagtäglich. Muss sie abnehmen? Ja, das muss sie, entscheidet ihr Ehemann. Die Erzählerin, heute erwachsen, möchte ihre Mutter ins rechte Licht rücken, berichtet von ihrer Kindheit in einem Dorf im Hunsrück der 1980er. Die Mutter ist eine herzliche, verantwortungsvolle, fleißige Frau, eine, die sich für andere einsetzt, sich um sie kümmert. Eine, die alles im Griff hat. Der Vater ist genau das Gegenteil: Ein Möchtegern, der alles in den Sand setzt – das Geld der Mutter zum Beispiel – einer der ohne Absprache entscheidet, der sich alles nimmt, ein rücksichtsloser Typ, der seine Frau kleinredet, kleinhält und ausnimmt. Psychische Gewalt – dieser Mann ist gegenüber seiner Frau ein Gewalttäter, psychischer Missbrauch an der Ehefrau. «Gaslighting», indem er täglich versucht, die Frau gezielt zu verunsichern, zu manipulieren, zu demütigen – bis zum völligen Zusammenbruch. Seine eigene Unzulänglichkeit, sein Versagen haben eine Ursache für ihn; sei es die Beförderung, die nicht klappt, der soziale Aufstieg, die Anerkennung in der Dorfgemeinschaft – das alles funktioniert nicht, weil SIE zu dick ist. Den ganzen Roman lang möchte man schreien: Warum lässt du dir das gefallen? Warum trittst du diesem miesen, respektlosen Typen nicht in den Allerwertesten und setzt ihn vor die Tür? Natürlich, zu solch einer Ehekonstellation gehören immer zwei! Aber gehen wir juristisch zeitlich zurück in den Anfang dieser Ehe: Hier ging es noch um die Schuldfrage bei der Scheidung. Wer abhaut ist schuld (oder er kann dem anderen Untreue nachweisen) und bekommt gar nichts, im Zweifel nicht mal die Kinder. Der Ehemann durfte über das Kapital (hier das Erbe der Frau) entscheiden, es sozusagen abgreifen, bei der Scheidung steht ihr nur die Hälfte des eigenen Geldes zu. Und wir dürfen nicht vergessen, wie Frauen erzogen wurden: Sei dem Manne untertan; im Zweifel lass dir alles gefallen. Und aus dieser sozialen Gefangenschaft konnte sich diese Mutter nie befreien. Still hat sie alles geschluckt, sich nie gewehrt: mit gesundheitlichen Folgen. Das Leben einer Frau: Der Mann versucht Karriere zu machen, die Frau muss verzichten, in diesem Fall für Kinder, Haushalt, Pflegekind, Pflege der Alten. Sie ist ans Haus gebunden – er zwitschert durch die Gegend: Sport, Urlaub, Liebchen, während sie zu Hause nicht herauskommt, nicht weiß, wo ihr der Kopf steht. Die Mutter hat anfangs einen guten Job als Übersetzerin für Englisch; mit dem Diplom für Französisch könnte sie Chefsekretärin werden, ein höheres Gehalt erhalten. Der Vater neidet ihr den Aufstieg, der ihm nicht gelingen mag. Er gibt ihr die Erlaubnis nur, wenn sie vorher abnimmt und den Kurs selbst zahlt. Sie bekommt den Job, den Kurs fürs Diplom wird sie nicht beenden, eine Schwangerschaft kommt dazwischen und die Pflege der Mutter. Der Vater bedient sich ständig am Geld seiner Ehefrau, ohne zu fragen. Das Haus ist ihm zu klein, das Auto nicht schnittig genug, in der Selbstständigkeit geht er krachend unter, muss beim alten Arbeitgeber darum bitten, wieder eingestellt zu werden ... «Wir haben doch genug Geld», sein ständiges Reden – geht etwas schief, so ist es ihm egal. Es ist das Geld seiner Frau, das er auf den Kopf haut. Beim Lesen könnte man sich ständig übergeben. Die Frage stellt sich immer wieder: Warum schmeißt diese Frau ihren Mann nicht raus? Das ist die Frage, die sich jeder stellt, der in der sozialen Arbeit tätig ist – warum tut ein Mensch das, warum ändert er nichts, wenn er doch kann? Die menschliche Psyche ist kompliziert und sie hat ein großes Volumen der Leidensfähigkeit. Es ist nicht immer einfach, das Handeln, bzw. das Nichtagieren von Menschen zu verstehen. Und leider gibt es bis heute diese verwöhnten Macho-Bubis, die zielgenau eine verschüchterte Frau finden, die sie kleinmachen, kleinreden, versuchen, sie zu beherrschen. Und bevor jetzt einer meckert – das gibt es auch anders herum. Der Roman ist aus der Sicht der Tochter geschrieben, zu Beginn rückblickend als Erwachsene – die aber in der Erzählung aus der Sicht des Kindes die Familie beschreibt, stetig reifend. Immer wieder gibt es Einschübe der erwachsenen Tochter, die interpretiert, ebenso Kurzkapitel, die Fachbegriffe erklären. Der Familienoman wurde für den Deutschen Buchpreis 2022 nominiert, gelangte auf die Shortlist. Ein emotionales Drama, eine Familiengeschichte, die man aushalten muss. Empfehlung! Daniela Dröscher, Jahrgang 1977, aufgewachsen in Rheinland-Pfalz, lebt in Berlin. Sie schreibt Prosa, Essays und Theatertexte. Studium der Germanistik, Philosophie und Anglistik in Trier und London, Promotion im Fach Medienwissenschaft an der Universität Potsdam sowie ein Diplom in »Szenischem Schreiben« an der Universität Graz. Ihr Romandebüt »Die Lichter des George Psalmanazar« erschien 2009 im Berlin Verlag, es folgten der Erzählband »Gloria« und der Roman »Pola« sowie das Memoir »Zeige deine Klasse. Die Geschichte meiner sozialen Herkunft« bei Hoffmann & Campe. Sie wurde u.a. mit dem Anna-Seghers-Preis, dem Arbeitsstipendium des Deutschen Literaturfonds sowie dem Robert-Gernhardt-Preis (2017) ausgezeichnet. Seit Herbst 2018 ist sie Ministerin im Ministerium für Mitgefühl.

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