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Der Anfang: «Sie gräbt in ihren Taschen und findet nichts. Die in der Hose leer, auch die im Mantel: nicht mal ein zerknülltes, feuchtes Taschentuch. Im Portemonnaie gerade noch ein Euro zwanzig. Alicia braucht das Geld erst nach dem Schichtwechsel, aber es ist ein ungutes Gefühl, fast blank zu sein. Ich arbeite im Bahnhof, in einem der Läden für Snacks und Süßigkeiten, dem bei den Toiletten. So stellt sie sich gewöhnlich vor. In Atocha muss sie an allen Geldautomaten Gebühren bezahlen, also steigt sie eine U-Bahn-Station vorher aus, zieht sich in der Filiale ihrer Bank zwanzig Euro und ist etwas ruhiger.» Sie sind sich nie begegnet, María und Alicia, Großmutter und Enkelin – doch beide wohnen in Madrid, wissen nichts voneinander. María kommt Ende der Sechziger während der Franco-Diktatur in die Hauptstadt, weil sie als Familienschade galt. Man schickte sie weit weg, damit sich niemand das Maul zerreißen konnte. Ihr uneheliches Kind wurde ihr weggenommen und zur verheirateten Schwester gegeben. Kurioserweise arbeitet María nun als Kindermädchen, als Hausangestellte, und fast ihr kompletter Lohn landete bei der Familie zur Erziehung für die zurückgelassene Tochter Carmen, die später Alicia das Leben schenken wird. Die Jüngere flieht 30 Jahre später vor der Mutter und dem sozialen Elend nach Madrid, um im Leben etwas zu erreichen. «Sie hat mich María genannt … Nicht ‹Mutter›, sie hat mich beim Vornamen genannt. Ich solle ja nicht auf die Idee kommen, dort aufzutauchen, denn das sei ein wichtiger Tag für sie, und es habe keinen Sinn, dass ich Interesse vortäuschte, wenn ich nie welches gehabt hätte.» Zwei Frauen im Wandel der Zeit, Frauenleben mit harten, unterbezahlten Jobs, arbeiten bis zur Erschöpfung – und immer fehlt das Geld um sich etwas im Leben aufbauen zu können. Eine Welt, von Männern dominiert! Doch es geht ein Ruck durch die Gesellschaft, und beide lösen es auf ihre Weise, um nicht immer hinten anstehen zu müssen. María arbeitet heute als Altenpflegerin – den Kontakt zu ihrer Tochter Carmen hatte ihr die Familie verwehrt, ihr Plan, die Tochter nachzuholen, hatte sich in Luft aufgelöst. Später nimmt sie mit der Tochter Kontakt auf, doch die weist sie barsch ab. Betteln passt nicht zu Marías Charakter, sie werden sich nie wiedersehen. Carmen hatte einen scheinbar erfolgreichen Geschäftsmann geheiratet und es sich gut gehen lassen, ihr Leben mit shoppen verbracht. Größere Wohnungen, bessere Schulen, protzige Autos, teurerer Kleider ... sie hatte es geschafft. Doch nie hatte sie gefragt, wo das Geld herkam. Ihr Mann hatte seine Restaurantkette auf Pump aufgebaut und irgendwann brach das Imperium während der Wirtschaftskrise zusammen, und er nahm sich das Leben. Der totale Absturz für Frau und Töchter ... «... gab es noch keine Straßenbeleuchtung in dem Viertel, das auch das meiner Eltern war, und als mein Vater geboren wurde, gab es noch keine Kanalisation. Sie kamen von dort her, hatten ihre Herkunft hinter sich gelassen und kauften immer größere Lokale und Wohnungen, in besseren Vierteln. Sie hatten die Schule abgebrochen, doch wir würden unseren Abschluss an einer Privatschule machen.» Die mittlere Generation, Carmen, kommt in diesem Roman nur als Nebenfigur vor, was ich schade fand. Sie geht im Corte Inglés einkaufen, bloß nicht im Supermarkt um die Ecke – und sie bezahlt mit Kreditkarte. Das spanische Klassensystem ist einerseits das Thema, auf der anderen Seite die Entwicklung der Emanzipation; ein typischer Gesellschaftsroman. María hat seit über 20 Jahren eine feste Beziehung, – doch ihre Unabhängigkeit ist für sie das wichtigste im Leben. Sie darf am Tisch sitzen bleiben, wenn Pedro mit den Kumpeln über Politik und die Arbeiterbewegung diskutiert – bedienen und putzen. Doch dann entdeckt sie für sich selbst die Politik, macht den Mund auf. Die Männer staunen. Sie setzt sich aktiv für Frauenrechte ein, geht engagiert auf Frauendemonstrationen, bildet sich weiter, verkörpert die aktive spanischen Arbeiterklasse. Alicia wiederum beginnt ein Studium, bricht schnell ab und arbeitet als Verkäuferin in einem Bahnhofs-Kiosk, lebt mit einem Mann zusammen, den sie nicht liebt, der ihr aber Sicherheit gibt, finanzielle Sicherheit. Zeitlebens hat sie den sozialen Abstieg nach dem Suizid ihres Vaters nicht verkraftet, steckt immer noch tief in der Scham, herauskatapultiert zu sein aus der «besseren Gesellschaft». Auf der einen Seite fand ich den Roman recht gut, sprachlich fein austariert. Auf der anderen Seite konnte mich die Geschichte nicht richtig packen auf Grund der distanzierten Perspektive. Ein gut dargestelltes Gesellschaftssystem im Lauf der Geschichte von Spanien. Elena Medel, geboren 1985, gelang mit ihrem Debütroman Die Wunder im Herbst 2020 ein literarischer Sensationserfolg. Als erste Frau gewann sie den prestigeträchtigen Premio Francisco Umbral. Übersetzungen in 15 Sprachen folgten. Im Alter von 19 Jahren gründete Elena Medel ihren eigenen Lyrikverlag, La Bella Varsovia. Drei Gedichtbände, zwei Bücher mit Essays erschienen in unabhängigen Häusern. Elena Medel lebt in Madrid und arbeitet als einzige Stipendiatin der Fundación BBVA an einem neuen Roman.