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letterrausch

Posted on 5.4.2023

Ein Geständnis vorweg: Ich bin nicht die Zielgruppe dieses Buchs – eigentlich soll es von Schülern gelesen werden. Die Autorin, auf TikTok wohl eine große Nummer, hat Deutsch auf Lehramt studiert und es sich zur Aufgabe gemacht, Klassiker im Internet an die Schülerschaft zu bringen und den Schulkanon zu entstauben bzw. ins 21. Jahrhundert zu heben. Er soll divers(er) werden, sodass Schüler nicht Jahr für Jahr dieselben Dramen und Novellen wiederkäuen müssen. Und da bin ich vielleicht doch wieder – wenigstens ein bisschen - Zielgruppe, denn auch ich habe Literaturwissenschaft studiert und wenn jemand vergessene, spannende Bücher auszugraben plant, dann bin ich natürlich sofort dabei! Reichls Buch besteht aus drei großen Abschnitten. In einer Einleitung werden ein paar Grundlagen geklärt: Was zum Beispiel Literatur eigentlich ist, warum wir lesen und wie bzw. warum wir Literatur interpretieren. Schon da erwartet mich bei der Definition des Begriffs „Literatur“ die erste Überraschung. Denn heute ist quasi alles Literatur. Schon etwas befremdlich, aber letztlich vermutlich nur konsequent weitergedacht. Zu meiner (Studien)Zeit hieß es noch: Alles ist Text. Heute halt: Alles ist Literatur; das Buch, die Werbung, die Instastory, das YouTube-Video, der drölfzigste Marvel-Film. Gulp. Im zweiten Teil beschäftigt sich Reichl dann eingehender mit der Frage, warum wir lesen, was wir lesen (auch in der Schule). Wer Nicole Seiferts „Frauen Literatur“ bereits kennt, wird hier nichts Neues mehr lernen, abgesehen vielleicht von einigen sehr bunten, aber völlig unpassenden Schimpfwörtern. Die These ist – wie bei Seifert auch –, dass der Kanon männlich geprägt ist, weil Männer ihn gemacht haben. Männer schreiben, Männer lesen, Männer rezensieren, Männer werden Uniprofessoren. Um diesen sehr männlich geprägten Kanon zu rechtfertigen, wird dann fälschlicherweise behauptet, Frauen hätten einfach nicht (so viel) geschrieben wie Männer. Im Gegensatz zu Seifert geht Reichl nun einen Gedankenschritt weiter und bricht die Dichotomie Mann/Frau auf, um das Augenmerk auf weitere Diskriminierungsstrukturen zu lenken: Was ist denn mit schwarzen Autoren? Mit queeren? Mit jüdischen? Mit behinderten? Oder welchen aus der Arbeiterschicht? Das funktioniert mal besser und mal schlechter. Denn auch wenn man bei den uns altbekannten Autoren aus dem Deutschunterricht recht sicher sagen kann, dass sie vermutlich eben nicht schwarz waren, wird es ansonsten schon schwer. Darf ich einfach so annehmen, dass keiner der großen Alten schwul war? Oder in irgendeiner Form behindert? Oder chronisch krank? Letztlich steht damit das, was bei Nicole Seifert noch absolut plausibel klang, hier plötzlich auf eher tönernen Füßen, weil es darauf aufbaut, dass wir bestimmte Dinge über Autoren einfach annehmen (dass sie zB hetero waren). Oder dass z.B. zeitgenössische Autoren uns mit so vielen Informationen über ihr Privatleben füttern, dass wir sie daraufhin bequem in bestimmte Kategorien von „priveligiert“ oder „diskriminiert“ einsortieren können. Woraufhin man sich automatisch fragt, ob man damit nicht die Furchen nur immer tiefer gräbt, die man eigentlich zuschütten und überwinden wollte. Im dritten und entscheidenden Teil versucht sich Reichl dann nicht etwa an einem „alternativen“ Kanon für die Schule, sondern sie möchte Angebote machen, welche Bücher man abseits von Lessing und Goethe zusätzlich noch so lesen kann. Manchmal gräbt sie dabei interessante Fundstücke aus, die (zumindest laut Reichl) auch gut anstatt einer bestehenden Schullektüre gelesen werden können, z.B. Gabriele Reuters „Aus guter Familie“ statt Theodor Fontanes „Effi Briest“. Oft genug allerdings hält sie sich und den Leser mit wahrscheinlich spannenden Texten auf, die sie nicht einmal selbst gelesen hat, weil sie schlicht nicht lieferbar und praktisch nicht antiquarisch zu bekommen sind. Ein Booknerd wie ich spitzt da zwar sofort interessiert die Ohren, doch welchen Mehrwert solche Passagen für die gesammelte deutsche Schülerschaft und die ein oder andere Lehrkraft haben sollen, bleibt Reichls Geheimnis. Im Folgenden werden dann in einzelnen Kapiteln Texte von diskriminierten Minderheiten im Schnelldurchlauf vorgestellt. Wer hier literarische Entdeckungen erwartet, wird schnell enttäuscht werden. Vieles ist (relativ) neu bzw. sogar aktuell. Überdurchschnittlich oft empfiehlt Reichl Autobiographien. Warum? Weil für sie Bücher von Minderheiten nur interessant zu sein scheinen, wenn diese Bücher Diskriminierungserfahrungen beschreiben. Das heißt konkret, dass sie Bücher von asiatischstämmigen deutschen Autoren empfiehlt, wenn diese ihre Rassismuserfahrung beschreiben. Bücher von Rollstuhlfahrern beschäftigen sich mit dem Leben im Rollstuhl. Bücher von Transpersonen beschäftigen sich mit dem Thema trans. Und so weiter. Mein Literaturverständnis ist schlicht ein anderes. Reichl sagt über „Emilia Galotti“ und ihre Lektüre während ihrer Schulzeit: „Was mich jetzt am meisten wütend macht – kein Wort darüber, dass hier ein Mann über eine Frau schreibt.“ Und klar ist das problematisch, wenn wir ausschließlich literarische Stimmen von Männern haben, die über Frauen schreiben. Aber dass dem nicht so ist und es die Frauenstimmen durchaus auch gibt, hat Reichl ja vorher ausführlich dargelegt. Es gilt, diese Stimmen zu bergen und wiederzuentdecken, anstatt darauf zu bestehen, dass jeder nur noch über die Dinge schreibt, die er aus seinem täglichen Leben kennt. Nicht, dass da nicht auch interessante Texte entstehen können. Aber wenn es nur noch das wäre … puh, wie langweilig. Und wie schade für den Schriftsteller im Rollstuhl, der immer nur über seine Behinderung schreiben soll, und die Autorin aus der Arbeiterklasse, die über Armut zu referieren hat. Wo bleibt da die Fantasie? Denn, wie Reichl sagt, geht es doch eben gerade auch um Empathie und darum, sich in andere Menschen und Lebensentwürfe hineindenken zu können! Das sollte man nicht nur vom Leser erwarten, sondern auch dem Autor zugestehen. Abschließend ein Wort zur Sprache, die Reichl wählt. Der Text ist so auf gerechte und diskiminierungsfreie Sprache getrimmt, dass es dafür offenbar eine Agentur brauchte (Discheck). Diese Hypersensibilität paart Reichl mit Jugendsprache, was dazu führt, dass man offenbar „dick“ nicht mehr sagen darf (das heißt jetzt „mehrgewichtig“), „fick“ aber schon. Und zwar wiederholt. Bei Reichl „holen sich immer noch alle Lehrkräft [bei Goethes Faust] einen runter“ - was scheinbar überhaupt nicht verletztend ist. Ansonsten nimmt man aber auf jede Befindlichkeit gern Rücksicht: von „Schriftstellende“ bis zu „Sinti*zze und Rom*nja“ ist alles dabei. In dieser Mischung wirkt Reichls Sprache leider wie ein absolut schräges Kunstprodukt, das niemand in dieser Form sprechen würde. Teresa Reichl kann der „Frauen Literatur“ von Nicole Seifert kaum Neues hinzufügen, wenn man von der Erweiterung des Fokus auf weitere von Diskriminierung betroffene Personengruppen absieht. Wer auf der Suche nach aktuelleren Stoffen für den Deutschunterricht ist, kann hier sicherlich die ein oder andere Entdeckung machen. Zum Hineinschnuppern kann man Reichls Website besuchen. Die dem Buch anhängende Literaturliste ist dort einsehbar – mit dem ausdrücklichen Aufruf, eigene Vorschläge hinzuzufügen.

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