Profilbild von letterrausch

letterrausch

Posted on 1.4.2023

„Woke“ findet sich heutzutage überall: Im Gendersternchen und Glottisschlag ebenso wie im veganen Waschmittel und dem Namen zur Seite gestellten Pronomen. Woke ist eine Lebenseinstellung, eine Ideologie, ein moralisch erhobener Zeigefinger, ein Zeitgeistphänomen. Und spätestens seitdem sich weite Teile der journalistischen und kulturellen Öffentlichkeit ganz selbstverständlich in den Dienst der Wokeness stellen wird es Zeit, sich mit dem Begriff auch kritisch auseinanderzusetzen und zu hinterfragen: Was will woke und was bedeutet das für jeden einzelnen von uns? Als Beitrag zu dieser Debatte kann man die vorliegende Essaysammlung aus dem Dunstkreis des (konservativen) politischen Magazins Cicero verstehen. „Die Wokeness-Illusion“ wurde vom Cicero-Macher Alexander Marguier herausgegeben und versammelt acht Essays zu verschiedenen Teilbereichen woken Gedankenguts. In jeweils kurz-knackigen zehn bis fünfzehn Seiten beschäftigt sich ein Autor mit der Geschichte der Identitätspolitik, mit Rassismustheorie, mit gendergerechter Sprache, mit Cancel Culture und kultureller Aneignung. Da geht es mal wissenschaftlicher und mal journalistischer zu, aber immer bekommt der Leser umfassende Einblicke, Hintergründe und Zusammenhänge präsentiert. Die Kernthese ist (und diese Kernthese kommt im Verlauf des Buchs in leicht abgewandelter Form immer wieder): Identitätspolitik und woker Zeitgeist sind eine Stellvertreterdiskussion. Indem man sich an den (teilweise peinlich banalen) woken Themen mit unglaublichem Einsatz abarbeitet, lenkt man von den drängenderen sozialen und gesellschaftlichen Problemen ab. Woke Washing (die Weiterentwicklung von Greenwashing) bei Firmen ist hier ein eindrückliches Beispiel: Wie einfach und im wahrsten Sinne billig ist es doch, Gendersternchen und auf sozialen Profilen Regenbogenflaggen zu nutzen. Da ist der Kunde beruhigt ob des vermeintlichen sozialen Engagements und der „richtigen“ Einstellung. Dass man als Firma dann trotzdem keine Tariflöhne bezahlt und die Gründung eines Betriebsrats unterdrückt, tut dann gar nicht mehr weh: Man ist ja woke, der Mitarbeiter hat nur leider nichts davon. Um den Mitarbeiter geht es aber auch gar nicht. Es geht allein darum, dem Kunden einzureden, dass er ein ethischer Konsument sei, dass sein Konsum bei Firma X nicht Teil des Problems, sondern stattdessen Teil der Lösung sei. Allerdings: Das ist, wie der Titel des Buchs ja bereits suggeriert, schlicht eine Illusion. Aber die macht wenigstens ein gutes Gefühl. Denn auch das ist woke: Gesellschaften, Menschen, soziale Schichten sollen sich auf einfache Weise in Kategorien einteilen lassen. Das geht mit identitätspolitischen Theorien wie z.B. der critical race theory besonders gut, nach der Rassismus kein individueller Akt mehr ist, sondern strukturell. Demnach ist jeder Weiße Rassist, jeder Farbige ist Opfer von Rassismus. Das Problem dabei: So redet man Opfer herbei. Es gibt keine Möglichkeit, aus der rassistischen Opferrolle je herauszufinden und genau darum ist woke eben auch eine Gefahr für unseren Freiheitsbegriff: „Wer Menschen nur als Opfer sieht, die keine Verantwortung übernehmen können, spricht ihnen die Fähigkeit ab, in Freiheit leben zu können. Freiheit und Verantwortung sind zwei Seiten derselben Medaille.“ Glaubt man dem Autor, ist woke in diesem Verständnis nichts Geringeres als ein Angriff auf die Errungenschaften der europäischen Aufklärung. Wer Argumentationshilfen braucht, warum er nicht gendert oder sich schlicht als a) Mann oder b) Frau fühlt, wer sich schon immer im Angesicht des woken Absolutheitsanspruchs in jeglicher Diskussion unbestimmt unwohl gefühlt hat, wer in einem prekären Arbeitsverhältnis vor sich hin arbeitet und sich in keiner politischen Diskussion mehr gesehen fühlt, der wird in diesem Buch Anknüpfungpunkte finden. Solche Beiträge zum gesellschaftlichen Diskurs sind unglaublich wichtig, gerade auch weil woke sich gern jeder kritischen Debatte entzieht, indem ganzen Bevölkerungsteilen die Teilhabe an der Diskussion per Sprechakt entzogen wird. Indem man die Welt in Opfer und Täter, in Gut und Böse unterteilt und nur noch den vermeintlichen Opfern ein Recht auf Meinungsäußerung zugesteht, verengt man den Meinungskorridor enorm. Man kennt das aus den gesellschaftlichen Diskursen der letzten Jahre: Jeder, der gegen ungehinderte Einwanderung ist, ist ein Nazi. Jeder, der sich gegen bestimmte Corona Maßnahmen ausgesprochen hat, ist ein Corona-Leugner. So entzieht man sich der Notwendigkeit, sich mit anderen Meinungen auseinandersetzen zu müssen, einfach weil man „mit solchen Leuten“ gar nicht diskutieren muss, weil ihre Meinung keinen Wert hat. Moral schlägt hier Argument und es kommt zur Bildung einer Meinungsbubble, also eines geschlossenen Weltbilds, das durch nichts mehr angegriffen werden kann. Gesellschaft aber kann nur durch Diskurs, Gespräch und Konsens entstehen und wachsen, nicht durch das Aufzwingen von vorbestimmten Moralvorstellungen. Insofern ist „Die Wokeness-Illusion“ ist guter Einstieg in das Thema, weil verschiedene Teilbereiche betrachtet, Hintergründe erläutert und Gegenargumente gebracht werden. Einziger Wermutstropfen bei dieser Essaysammlung: alle Autoren sind Männer. Da kommt schnell der Gedanke auf, nur „alte weiße Männer“ (gähn) hätten ein Problem mit woken Ideen und das weibliche Geschlecht stünde geschlossen auf der anderen, der woken Seite. Das ist natürlich Quatsch. Aber wäre es wirklich so schwer gewesen, hier noch wenigstens eine Autorin zu gewinnen? Davon abgesehen ist „Die Wokness-Illusion“ ein absoluter Gewinn. Bitte unbedingt lesen!

zurück nach oben