Marcus Jordan
Spannendes, kompliziertes, provokatives und inspirierendes Buch. Bin nicht vom Fach soziologisch oder philosophisch und war rechtschaffen überfordert von der Sprache und wohl auch manchmal vom Kontext. Lewis plädiert tatsächlich für die Abschaffung der Familie. Es geht ihr um eine neue Art von Care Arbeit um eine bessere, selbstbestimmtere Art von Bindung. Dabei ist sie am Ende versöhnlicher und zweifelnder, als man zunächst meint und ich "spoilere" das gerne, weil man im größeren Teil des (sehr kurzen) Buches glauben könnte, dass sie einen quasi totalitären Ansatz einfordert. Wobei ich schon finde, dass das in diesem Sinne auch nicht ganz ungefährlich ist und auch am Ende ist mir nicht klar genug gesagt, dass es keinesfalls zu einem kollektiven Zwang, zu einer ideologischen "Überstülpung" kommen darf. Aber wenn es der Ansatz ist, dass wir nach gerechteren, intuitiveren und natürlicheren Konzepten für „Zuwendung, Teilen und Liebe“ suchen und dass wir dabei unsere vermeintlich obligaten Konzepte in Frage stellen, ohne Zwang auf jemanden auszuüben, dann bin ich dafür. Wirklich erschreckend für mich ist die Idee der Entmachtung von Eltern. Den gesellschaftspolitischen Freiheitsbegriff auf Kinder zu beziehen, erscheint mir extrem verkopft und abstrus. Kindlicher Geist und kindliche Seele ist unfertig und braucht aus meiner Sicht die "gesellschaftliche Freiheit" nicht nur nicht, sondern nimmt sogar Schaden daran, weil es zwangsläufig zu einer Überforderung einerseits kommt und andererseits zu einer Unterversorgung mit vorgegebener Sicherheit, in der der Raum entsteht, den Kind braucht, um sich entwickeln zu können. Wie kommt man auf die Idee, dass „Staat“, dass ein Kollektiv durchschnittlich besser für ein Kind sorgen sollte, als Eltern (leiblich oder durch Adoption)? Natürlich habe ich genug Phantasie mir vorzustellen, dass es Fälle traumatisch bedingt, dysfunktionaler Eltern gibt, die Kindeserziehung besser dem Kollektiv überlassen würden. Aber das als Norm zu fordern ist verdächtig für mich. In der Regel wird doch die individuelle Zuordnung und das persönliche Zuständigkeitsgefühl einen extrem viel höheren Grad an auf Beobachtung basierender Fürsorge bedeuten und wesentlich flexibler sein, wenn es darum geht, auf individuelle, kindliche Bedürfnisse reagieren zu können. Oder ist das einfach meine viel zu privilegierte Sichtweise? Ich lebe in einem demokratischen, aber seit Jahrzehnten konservativ bestimmten Gesellschaft und es ist ein Albtraum für mich, mir vorzustellen, ich hätte keine Rechte und Möglichkeiten gehabt, meine Kinder vor der Gewalttätigkeit und Zufälligkeit des kollektiven Verständnisses von Erziehung und Wert zu schützen. Niemals hätte ich Kinder bekommen unter solchen Prämissen. Meine Kinder sind nun fast erwachsen und ich habe das Gefühl, dass viel von dem, was ich für sie getan habe, gewesen ist, ihnen eben einen sicheren Raum anzubieten, in dem sie dem Kollektiv entzogen waren, sehr genau und individuell betrachtet wurden und dementsprechend auch sein durften. Hier habe ich vielleicht etwas überhaupt nicht verstanden und so lange das so ist, wäre ich immer ein extrem entschiedener Gegner einer solchen politischen Forderung. Andersrum ermutigt mich das Buch, noch sehr viel mehr darauf zu achten, meine Idee von Familie keinesfalls meinen Kindern aufzudrängen. Lewis hat mir schon geholfen, zu verstehen, dass es "besser gehen könnte". Theoretisch.