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gwyn

Posted on 13.3.2023

«Er war ein erwachsener Mann, ein Dichter, zumindest sah er sich gerne als solcher, der sich, verkatert und mit Fünf-Tage-Bart, aus den Untiefen eines kurzen Schlummers erhob und vom Schlafzimmer ins Zimmer des schreienden Babys taumelte.» London, 1986, Roland Baines liest die Nachricht, die Alissa auf seinem Kopfkissen hinterlassen hat: Sie liebe ihn, werde ihn und ihr gemeinsames Baby aber dennoch verlassen. «Ich habe das falsche Leben gelebt», schreibt sie. Trotzdem meldet sie Roland als vermisst und die Polizei schneit ins Haus. Er soll beweisen, dass sie lebt: «Ist eine vermisste Frau tot, ist meist ihr Mann der Mörder.» Roland geht gedanklich zurück in die Kindheit, 1958, zu dem Zeitpunkt, da der 11-jähriger in ein Internat nach England geschickt wird, weit weg von seinen Eltern, wo er von Klavierlehrerin Miriam Cornell verführt wird. Dort beginnt das, was prägend für sein Leben sein wird. Das regnerische England, Schulkleidung, das Zimmer mit anderen zu teilen, die Ordnung an der Schule. Der Junge muss sich einfügen, vermisst die Eltern. Als Schulabbrecher stürzt er sich zunächst ins Hippieleben, beginnt später zu schreiben, aber seine Werke bringen ihm keinen Erfolg. So schlägt er sich alleinerziehend mit Hilfsarbeiten durch, arbeitet als Kartenschreiber, Tennislehrer oder Klavierlehrer. Der Roman enthält auf jeden Fall autobiografische Elemente und McEwan hat sicher viele seiner eigenen Erlebnisse zum Zeitgeschehen eingebracht, seine Gedanken zum Weltgeschehen. Er hat eine Geschichte erfunden und seinen persönlichen Lebensrückblick mit eingewoben. Richtig ist, dass McEwan als Sohn eines schottischen Offiziers in Libyen aufwuchs, später auf ein britisches Internat geschickt wurde. Die Klavierlehrerin entstand in der Fantasie als Zentrum für diesen Roman. Und richtig, seine Mutter hatte ihm jahrzehntelang den unehelichen Halbbruder verschwiegen, der zur Adoption freigegeben wurde. Seine erste Ehefrau hat ihn nicht mit einem Baby im Stich gelassen, sie haben sogar zwei Kinder. Er wurde nicht von der Polizei verdächtigt, möglicherweise die Frau um die Ecke gebracht zu haben. Nach der Trennung musste er sogar das Sorgerecht für seine Kinder vor Gericht einklagen. Die zweite Frau hat ihn nicht verlassen, er lebt ihr zusammen in London. McEwan hielt sich in Berlin auf, als die Mauer fiel, aber es gibt keinen familiären Bezug zur «Weißen Rose». «Die Meinungsfreiheit war auf dem Rückzug und die digitalen öffentlichen Räume hallten wider von den Schreien der wahnsinnigen Massen.» Die Ängste um das Geschehen in Tschernobyl, Kubakrise, der Kalte Krieg, Atomenergie, AIDS, Mauerfall, Elfter September, Digitalisierung und Fake News, Thatcher und Johnson, Brexit, Pandemie, Klimawandel – historische Eckdaten, über die sich Roland Baines im Nachhinein Gedanken macht. Ein kritischer Blick auf Vergangenheit und Gegenwart des eigenen Lebens – ein Mann, der am Ende im Reinen mit sich ist. Ein Roman, der auf mehrere Erzählebenen aufgebaut ist, in der Zeit immer wieder vor und zurück springt. Seine Beziehung zu Frauen funktioniert nicht – er schiebt das zunächst auf die Klavierlehrerin, die ihn missbrauchte – kommt aber später zu dem Ergebnis, das dieses Problem weit länger seine Ursache hatte: Die strenge Soldatenfamilie, eine verstörende Mutter, die in plötzliche Wutattacken verfiel und ebenso von großer Traurigkeit getrieben war. Rolands Exfrau macht Karriere als Schriftstellerin in Deutschland, während er dahindümpelt. Die Mutter wird weiterhin vom Vater geschlagen, bis der endlich ins Grab wandert. Anfangs habe ich versucht, herauszufinden, welche Episoden wahr sind, welche Fiktion. Dann habe ich es aufgegeben. Nehmen wir den Roman als Fiktion – als das Resümee eines alten Mannes, der rückblickend darüber sinniert, was ein geglücktes Leben ausmacht. «Um die langsame Reduktion beim CO2 Ausstoß ihres Landes zu sichern und zugleich die mächtige Kohle-Lobby im Zaum zu halten, wird sie zur Befürworterin der Kernenergie. Die Partei hasst sie dafür, kann sie aber nicht loswerden.» Es gibt auch amüsante Szenen, in denen die Geschichte verändert wird. Deutschland wählt eine:n neue:n Kanzler:in. Es gewinnt die Grüne Kandidatin, die zur Befürworterin der Kernenergie mutiert. Drama – Familiendramen, Freundschaftdramen, persönliche Verletzungen, dramatische Weltgeschichte; ein Chaos namens Leben. Ian McEwan ist ein großartiger Erzähler, und auch hier zeigt er sein Talent. Ein Roman, der mich bestens unterhalten hat, der stilistisch beeindruckt, an manchen Stellen für mich zu breit gezogen ist. Der Missbrauch, der dem 14-jährigen durch die Klavierlehrerin angetan wird, steht für den Missbrauch der Weltgeschichte: Missbrauch der politisch Mächtigen, Missbrauch der Männer an den Frauen und umgekehrt, der Missbrauch der Menschen an unserer Umwelt. «All die schönen, uns erhaltenden Zusammenhänge, denen wir, obwohl wir sie kaum verstanden, Veränderungen aufzwangen.» Ein Lebensweg, dem sich Abzweigungen bieten, die man nimmt oder liegen lässt. Ein individuelles dramatisches Leben im Lauf und im Zusammenhang der dramatischen Zeitgeschichte, gekonnt miteinander verwoben – exzellent! Wann war das Abbiegen falsch, wann war es richtig? Letztendlich leben wir alle trotz aller persönlichen Wege im großen Fluss. Gern würde Roland Baines, der sein Leben lang auf der Suche nach Glück war, am Ende wissen, wie das 21. Jahrhundert ausgeht – er hatte seine Lektionen ... warten wir es ab. Ian McEwan, geboren 1948 in Aldershot (Hampshire), lebt bei London. 1998 erhielt er den Booker-Preis und 1999 den Shakespeare-Preis der Alfred-Toepfer-Stiftung. Seit seinem Welterfolg «Abbitte» ist jeder seiner Romane ein Bestseller, viele sind verfilmt, zuletzt kamen «Am Strand» (mit Saoirse Ronan) und «Kindeswohl» (mit Emma Thompson) in die Kinos. Ian McEwan ist Mitglied der Royal Society of Literature, der Royal Society of Arts, der American Academy of Arts and Sciences und Träger der Goethe-Medaille. Alle seine Auszeichnungen aufzuzählen, würde eine ganze Seite füllen.

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